Das „Einzelkind“ unter den Cantautori: zur Ausstellung über Rino Gaetano im Museo di Roma in Trastevere – von Pascal Oswald

„Ich versuche Lieder zu schreiben, indem ich mich von den Gesprächen inspirieren lasse, die man in den Straßenbahnen, inmitten der Menschen, führen kann […] Ich will keine Lehren erteilen, ich will nur Chronist sein.“ Diese Worte Rino Gaetanos prangen in großen Lettern auf einer Wand des Museo di Roma: Dem aus Kalabrien stammenden Musiker hat das Museum im römischen Stadtteil Trastevere eine große Ausstellung gewidmet, die vom 16. Februar bis 28. April 2024 dort zu sehen ist.

ino Gaetano war einer der bedeutendsten Cantautori des 20. Jahrhunderts – der Begriff ist die italienische Version von „Singer-Songwriter“ und bezeichnet einen Sänger, der vorwiegend selbstgeschriebene Lieder vorträgt. In Deutschland ist Gaetano weitgehend unbekannt: Der deutsche Wikipedia-Artikel beschränkt sich auf das Nötigste, Literatur in deutscher Sprache sucht man vergebens. In Italien hingegen wurde der Liedermacher, der gerne mit einem schwarzen Zylinder auftrat, ab den späten 1990er-Jahren wiederentdeckt und genießt heute regelrechten Kultstatus. Seine Lieder scheinen aufgrund ihrer Thematik zeitlos zu sein und werden von Vertretern aller Generationen gehört und gesungen. Vor allem „Ma il cielo è sempre più blu“ („Aber der Himmel ist immer blauer“), ein kritisches Porträt der italienischen Gesellschaft, ist auch in der Öffentlichkeit häufig zu hören.
Die Ausstellung hat ein weitgehend konventionelles Profil: Multimedia-Spektakel und 3D-Brillen gibt es hier nicht; stattdessen bieten Texte auf Infotafeln sowohl auf Italienisch als auch in englischer Übersetzung das Grundgerüst, das durch Videos und vor allem vielfältige und abwechslungsreiche, häufig zum ersten Mal gezeigte Ausstellungsobjekte ergänzt wird, welche Anna Gaetano, die Schwester des Cantautore, den Kuratoren zur Verfügung gestellt hat.

Foto: Pascal Owald 2024

Der Rundgang beginnt mit einer Einführung in die Biographie des Musikers, der am 29. Oktober 1950 im süditalienischen Crotone geboren wurde. Dort verbrachte er seine ersten knapp zehn Lebensjahre, bevor die Familie nach Rom umzog. Er stammte aus einfachen Verhältnissen: Sein Vater fand in einem Hotel Arbeit, seine Mutter in einer Färberei. Im Herbst 1961 schickten die Eltern Rino in ein Priesterseminar nach Narni – nicht, um ihn eine religiöse Laufbahn einschlagen zu lassen, sondern um ihm eine gute Ausbildung zu ermöglichen. 1966 kehrte er nach Rom zurück. Der weitere Ausstellungstext erläutert Rino Gaetanos frühe Passion fürs Theater, seine musikalischen Anfänge (die erste Single „Il love you Marianna“ erschien 1973, das erste Album „Ingresso libero“ 1974), seine Besuche im Folkstudio in Trastevere, seine ersten Produktionen mit der Schalplattenfirma It, seine großen Erfolge, und den frühen, tragischen Tod in einem Autounfall am 2. Juni 1981.

Foto: Pascal Oswald 2024

Die zweite Sektion „Kindheit – Familie – Freunde“ zeigt zahlreiche Fotos des Cantautore sowie verschiedene persönliche Raritäten in einer Vitrine: seinen Personalausweis, sein Abonnement bei der römischen Verkehrsgesellschaft ATAC und Postkarten an die Familie von seinen Reisen. Als besonders originell erweist sich eine selbstgebastelte Uhr auf einer Schallplatte: Nach später Heimkehr von Konzerten benutzte Rino Gaetano, der nie mit seiner Freundin zusammenzog, sondern bis zu seinem Tod bei den Eltern wohnte, dieses an seiner Zimmertür angebrachte Objekt dazu, seiner Mutter die gewünschte Weckzeit mitzuteilen. Diese Gegenstände geben einen Einblick in das Privatleben Rino Gaetanos, es wäre jedoch wünschenswert gewesen, sie stärker zu kontextualisieren und ihre Bedeutung besser aufzuzeigen, etwa durch das Hinzuziehen der Aussagen von Zeitzeugen und Weggefährten Gaetanos.

er folgende Ausstellungsabschnitt erläutert anschaulich die Inspirationsquellen für die Lieder Rino Gaetanos: Dazu gehörten erstens Musiker wie die Beatles, Enzo Jannacci oder Bob Dylan. Zweitens spielten Film und Theater im Werk Gaetanos eine wichtige Rolle: Sein im Titel auf Verdis berühmte Oper anspielendes Lied „Aida“, das in wenigen Versen auf originelle Weise die Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert erzählt, ist etwa von Bernardo Bertoluccis Film „Novecento“ inspiriert. Drittens waren für die Musik Gaetanos der Alltag und persönliche Erfahrungen prägend: So taucht die Bar des Viertels Monte Sacro in seinem Lied „Tu, forse non essenzialmente tu“ auf; Mario und Gino, die in „Berta filava“ erwähnt werden, sind zwei Besucher der Bar hinter dem römischen Ableger der Radio Corporation of America. Rino Gaetanos erste Single „I Love you Maryanna“ ist nach der vorherrschenden Interpretation seiner Großmutter Marianna gewidmet, während er in „Ahi Maria“ seine Mutter besingt. Anschaulich werden diese textuell dargestellten Überlegungen durch die Ausstellung eines Teils der über 500 Schallplatten umfassenden Sammlung Rino Gaetanos, Musikkassetten und Bücher aus seinem privaten Nachlass ergänzt. Zudem sind die Programmhefte der frühen Theatervorstellungen, an denen er teilnahm, und wenige der legendären „Quaderni“ („Hefte“) zu sehen, in denen der junge Rino Verse, aber auch kleine Zeichnungen festhielt und die ihm später wichtige Anregungen geben sollten.

Foto: Pascal Oswald 2024

Insgesamt sechs Alben veröffentlichte der Cantautore, deren Cover an einer der Ausstellungswände im Flur in Übergröße angebracht sind. In einem Seitenraum wird das thematische Spektrum der Lieder Gaetanos zusammenfassend dargestellt: Frauen und Liebe stellten in dieser Hinsicht ein zentrales Sujet dar, dem Rino Gaetano durchaus mehr als oberflächliche „Herz-Schmerz-Theatralik“ abzugewinnen wusste: Starke, emanzipierte Frauen dominieren seine Lieder. Politik und soziale Anklage kommen besonders im legendären „Nuntereggae più“ zum Ausdruck, das eine schier endlos lange namentliche Aufzählung von Politikern und Industriellen enthält, oder in „Ti Ti Ti“, das „pomadisierte Politiker, die versuchen, ihre Verbrechen kleinzureden“, an den Pranger stellt. Arbeit, der Süden und die Emigration werden in „Agapito Malteni il ferroviere“, das von einem Eisenbahner erzählt, oder in „Ad esempio a me piace il Sud“ („Zum Beispiel gefällt mir der Süden“) behandelt, das die Liebe Gaetanos für seine süditalienische Heimat zum Ausdruck bringt. Dass für den Cantautore auch gesellschaftliche Ausgrenzung ein wichtiges Thema war, zeigen „Escluso il cane“ („Den Hund ausgeschlossen“) und das Lied mit dem widersprüchlichen Titel „Mio fratello è figlio unico“ („Mein Bruder ist Einzelkind“), dessen Protagonist sich nicht den gesellschaftlichen Zwängen beugt. Die Informationstafel liefert eine gute Zusammenschau der Inhalte des Werks des widerspenstigen Liedermachers, an dieser Stelle wäre es jedoch möglich gewesen, noch tiefer zu schürfen, indem man etwa verstärkt Selbstaussagen Gaetanos über sein Werk zum Einsatz gebracht hätte – zahlreiche interessante Beispiele dazu liefert ein 2004 von Massimo Cotto herausgegebener Band.

Ausgestellte maschinen- und handgeschriebene Manuskripte erlauben einen Einblick in die Entwicklung von Rino Gaetanos Liedtexten. Dass der Text für ihn zunächst im Vordergrund stand, zeigt auch die Tatsache, dass er keine Notizen zum musikalischen Arrangement festhielt. Rino Gaetanos erste Ideen zu seinen Liedtexten entstanden oftmals im Alltag, etwa beim Autofahren, die dann in weiteren Schritten ausgearbeitet wurden. Aufmerksame Ausstellungsbesucher stellen fest, dass das Lied „Ad esempio a me piace il sud“ in einem ersten Entwurf „Ciò che mi piace“ („Das, was mir gefällt“) hieß, und dass „I miei sogni d’anarchia“ („Meine anarchischen Träume“) zunächst den schlichten Titel „Sogni“ („Träume“) trug. Weitere Raritäten wie die Olivetti-Schreibmaschine des Cantautore, Carlo D. Vincenzos Originalentwurf für das Cover von „Aida“, oder der Pullover, den Rino Gaetano in zahlreichen Fernsehshows trug, bereichern diesen Ausstellungssaal. Auch an dieser Stelle hätten die Kuratoren die Objekte besser kontextualisieren können, indem sie mehr Informationen zu textuellen Stilelementen der Lieder Gaetanos wie zur Ironie und dem sporadischen Gebrauch englischer, französischer oder nonsense-Begriffe geboten hätten.

Foto: Pascal Oswald 2024

Der folgende Raum hat die Musikinstrumente Rino Gaetanos und seine Teilnahme am Festival von Sanremo 1978 zum Gegenstand, ohne jedoch auf die geringe Bedeutung hinzuweisen, die der Cantautore selbst diesem Ereignis und dem Lied „Gianna“, das er dort vortrug, zuwies: „Sanremo bedeutet nichts und nicht zufällig habe ich mit Gianna teilgenommen, die nichts bedeutet.“ Rino Gaetano brach in zweierlei Hinsicht in Sanremo mit den Konventionen: Als er auf die Bühne gerufen wurde, kehrte er noch einmal zurück, um sich das Handtuch seiner Mutter umzuhängen, das ihm Glück bringen sollte und an seine Geburt erinnerte. „Gianna“ war zudem das erste in Sanremo aufgeführte Lied, in dem das Wort „sesso“ („Sex“) vorkam.

Wieder zurück im Flur, knüpft die dortige Ausstellungstafel über die Auftritte Rino Gaetanos im Fernsehen an sein antikonformistisches und -liturgisches Benehmen in San Remo an: 1977 hielt er, als Gast von Gino Paolis „Auditorio A“, bei der Darbietung des in Zusammenhang mit der Ölkrise stehenden „Spendi spandi effendi“ eine Zapfpistole in der Hand. Ein Video zeigt Gaetanos Teilnahme an Maurizio Costanzos Fernsehsendung „Acquario“ im Oktober 1978, wo er „Nuntereggae più“ sang: Während der im Lied erwähnte Costanzo dieses offensichtlich geringschätzte, unterstrich die ebenfalls eingeladene Unternehmerin und Politikerin Susanna Agnelli das Recht der Jungen, die älteren Generationen zu kritisieren.

Neben einem Filmsaal, in dem Musikvideos ausgestrahlt werden, bietet der letzte Ausstellungsteil noch einige Informationen zu Rino Gaetanos Reisen, zur großen Bedeutung, die Rom und insbesondere das Viertel Monte Sacro für ihn hatte, zu seinem Hobby Fotografie, und zu seinem Nachleben.
Rino Gaetano war kein „militanter“ Cantautore, der die Musik als Instrument des politischen Kampfs verstand, und galt daher der Linken als zu wenig engagiert; für den rechten Mainstream war er hingegen zu tiefgründig und antikonformistisch. Zugleich nimmt er als weitestgehender Autodidakt, der sich nicht an expliziten Vorbildern orientierte, eine Alleinstellung unter den italienischen Sängern der damaligen Zeit ein. Rino Gaetano war in dieser Hinsicht – mit ihm selbst gesprochen – ein „figlio unico“, ein „Einzelkind“ unter den Cantautori.

Der hier besprochenen Ausstellung gelingt es gut, die Grundlinien im Leben und Werk Rino Gaetanos einer breiteren Öffentlichkeit darzustellen. Sie hält auch einige Raritäten bereit, wie Kleidungsstücke des Cantautore, Textmanuskripte oder seltene Werbegegenstände, etwa ein „Rino Gaetano ahi Maria“-Frisbee („Ahi Maria“ ist der Titel des oben erwähnten, seiner Mutter gewidmeten Liedes). Bisweilen hätte man sich tiefgründigere Informationen etwa durch die stärkere Verwendung von Erinnerungszeugnissen erwünscht. Etwas schade ist, dass die schwarze Schrift auf dem blauem Grund der Ausstellungstafeln manchmal etwas schwer zu lesen ist. Besucherinnen und Besucher können zwar die erwähnten Musikvideos ansehen, ansonsten vermisst man jedoch Hörproben. Trotz dieser kleinen Kritikpunkte mag man dieser Ausstellung, der ersten großen Rino Gaetano-Ausstellung überhaupt, viele Besucherinnen und Besucher wünschen. Der reguläre Eintrittspreis beträgt 12 Euro, wobei auch die anderen Ausstellungen und die Dauerausstellung des Museo di Roma in Trastevere inbegriffen sind.

„Rino Gaetano“, 16.2. bis 28.4.24, Museo di Roma in Trastevere

Kuratierung: Alessandro Nicosia, Alessandro Gaetano

Gestaltung: C.O.R. Creare Organizzare Realizzare

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