„Queering the Crip, Cripping the Queer” im Schwulen Museum* Berlin – von Nicole Guether

Die Ausstellung ist international die erste, die sich der vielfältig vergleichbaren historischen, kulturellen und politischen Ausgrenzung queerer und behinderter Menschen annimmt. Dazu spannt sie den zeitlichen Bogen ausgehend vom antiken Schönheitsideal über Mittelalter und frühe Neuzeit bis in die Gegenwart. Mit ihrer sorgsam kuratierten Auswahl an Arbeiten von 24 internationalen Künstler:innen*, die teilweise eigens für die Schau geschaffen wurden und sich mit den historischen Themen und Objekten auseinandersetzen, gelingt der Ausstellung nicht nur ein pointierter geschichtlicher Überblick, sondern obendrein eine sehenswerte Kollektion aktueller Positionen.

Selbstbewusst und selbstbestimmt

„To Crip“ – aus dem Englischen übersetzt mit der Bedeutung „Krüppel“ oder „behindert“ – ist als konzeptualisiertes Verb von der Disability Studies Forscherin Carrie Sandahl eingeführt worden, um die vergleichbare Diskriminierungserfahrungen homosexueller („queer“ aus dem Englischen für sonderbar) und behinderter Menschen zu untersuchen. Mit Sandahls Konzept wird in der Ausstellung aufgezeigt, wie diese communities „von der Religion verteufelt, bei der Wohnungssuche, auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungswesen diskriminiert, in der Repräsentation stereotyp dargestellt, zum Opfer von Hassgruppen gemacht und oft in ihren Herkunftsfamilien gesellschaftlich ausgegrenzt“ wurden und werden.

Mit und von queeren-/behinderten Kurator:innenund Künstler:innen geschaffen, wird diese Annahme von ehedem abfällig gemeinten Schimpfwörtern, wie auch das Wort „queer“, in der Selbstbezeichnung zum selbstbewussten Statement.

Vorab: Ein Wort zur Sprachlichkeit

Ein erster Wandtext klärt darüber auf, dass die Verwendung der Bezeichnung „behinderte Menschen“ bewusst gewählt wurde, um darauf hinzuweisen, dass Menschen keine Behinderung haben, sondern von und in der Gesellschaft behindert werden.

Kurzer Überblick: Das Schwule Museum Berlin

Das Schwule Museum (SMU) wurde 1985 auf private Initiative hin in Berlin gegründet. Einst angetreten, um die abgewertete „Geschichte und Kultur schwuler Männer und ihrer Emanzipationsbewegung“ zu erzählen, hat es sich inzwischen der Vielfältigkeit von Queerness geöffnet. Seit der Gründung tritt das SMU immer wieder hervor mit umstrittenen, weil für die (Cis-heterosexuelle) Mehrheitsgesellschaft oft unbequemen, sowie Meilenstein setzenden Ausstellungen.

Damit ist das SMU das „international wichtigste Kompetenzzentrum für die Erforschung, Bewahrung und Präsentation der Kultur und Geschichte queerer Menschen und sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“, das den Kampf gegen explizit alle Formen von Diskriminierung und Ausgrenzung in einer heteronormativ dominierten Gesellschaft der zweigeschlechtlichen Geschlechterordnung führt und zur Anerkennung queerer Lebensentwürfe beiträgt. Und Grund genug, sich mit ihm zu beschäftigen.

In acht Kapiteln durch Diskriminierung und Kampf

Schon wie die Ausstellung ins Thema findet, ist hervorragend konzipiert: Mit Kopien der antiken Statuen der Venus von Milo und des Torsos von Doryphoros wird das Jahrtausende alte Schönheitsideal ad absurdum geführt und als pure Illusion entlarvt: Das Ebenmaß an Schönheit ist zerbrochen, ihr fehlen Gliedmaßen, die Nasen war vor der Restauration abgeschlagen, Risse wie tiefe Narben. Dass ausgerechnet von diesen verstümmelten Körperfiguren die Stigmatisierung des Unperfekten ausging, es entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Perfektion ist nicht nur unerreichbar, sondern auch das, was wir aus ihr machen.

Foto: Nicole Guether 2023

Von diesem starken Bild gelingt der Übergang in die Historisierung des Themas mühelos. Im Kapitel „Heilige und Sünder“ wird zunächst in das religiös beherrschte Modell des Mittelalters eingeführt, das Behinderung paradoxerweise als Gottes- oder Teufelswerk ansah. Mit der Videoarbeit der schottischen Performerin und Choreographin Claire Cunningham wird wiederum eine kritische Auseinandersetzung als Kommentar darauf geboten. Denn Cunningham legt ihrer Tanzperformance „Give Me a Reason to Live” ihre Beobachtung zugrunde, wonach der frühneuzeitliche Maler Hieronymus Bosch in seinen Höllenvisionen „alle Bettler (als) Krüppel, alle Krüppel (als) Bettler“ dargestellt hat und Behinderung so als Symbol der Sünde nutzte.

Foto: Nicole Guether 2023

Beständigkeit von Bildern

Durchgehend schaffen die Kurator:innen Birgit Bosold, Kenny Fries und Kate Brehme mit ihrer Auswahl an Werken die Verbindungslinie von der Vergangenheit in die Gegenwart zu zeichnen und somit aufzuzeigen, wie sehr Bilder Beständigkeit haben.

Der erstaunliche wie richtige Hinweis, dass im Film Bösewichte bis heute über körperliche Merkmale charakterisiert werden, führt letztendlich auf die frühneuzeitliche Physiognomie-Lehre zurück, laut der Rückschlüsse auf den Charakter über das Erscheinungsbild möglich seien. Als Gegengewicht dazu werden „authentische Gegenerzählungen“ präsentiert. So u.a. mit Riva Lehrer, die mit ihren intimen Porträts die Natürlichkeit ihrer Subjekte betont und Behinderung ästhetisch abbildet.

Damit werde Kontrolle über die eigene(n) Geschichte(n) beansprucht, so die Kurator:innen. Letztlich wird hierin auch das Versprechen der Aufklärung (5. Kapitel) spät erfüllt, wonach alle Menschen gleich sind – und Behinderung nur ein Teil der eigenen Existenz ausmacht.

Foto: Nicole Guether 2023

„Den (eigenen) Körper in den Kampf werfen“

Das Konzept der Ausstellung, mindestens ein zentrales Gegenwartswerk der historischen Thematik zur Seite zu stellen, geht oft aufgrund seiner Ambiguität grandios auf. Für das 19. Jahrhundert steht die Fotoserie von Steven Solbrig gewissermaßen Pate. Solbrigs hochästhetische und sensible Körperselbstbildnisse nehmen Bezug auf Standardisierung und Normierungszwang der Epoche. Die führte schließlich zu Kriminalisierung und juristischer Ausgrenzung, wenngleich hierin in gewisser Weise Anerkennung lag, da erstmals begonnen wurde zwischen „homosexueller Handlung“ und „Homosexualität“ zu unterscheiden. Indem Solbrig fotografisch die eigene fragwürdige „Normabweichung“ thematisiert, werden umso mächtigere Denkbilder geschaffen.

Unterdessen gelingt ein weiterer kuratorischer Kniff, befinden sich Solbrigs großformatigen Fotografien in räumlicher Nähe zu einer Sammlung kleiner Postkarten der im 19. Jahrhundert beliebten „Freakshows“. In diesen waren alle, die ››anders‹‹ waren, zur Schau gestellt worden. Durch solche Momente werden visuelle Dialoge geschaffen, die zu Debatten anregen.  

Ebenfalls beinhaltet diese Sektion eine Auswahl von Werken der Heidelberger Prinzhorn Sammlung. Sie sind an dieser Stelle deutliches Statement gegen jene menschenverachtende Pseudowissenschaft der Eugenik, würdigt die outsider art zugleich als reine Kunst. Hier zeigt sich fabelhaft, wie Kunst wirkmächtige Räume zu verschaffen mag, in denen über Diskurse Veränderungen provoziert werden.

Das „Dark Heart“ der Ausstellung

Den vom NS-Regime queer/behinderten Verfolgten und Ermordeten gibt diese Sektion regelrecht eine Stimme (zurück). Mit den Zeichnungen von Wilhelm Werner werden die einzigen bekannten Arbeiten eines Opfers von Zwangssterilisierung gezeigt. Fünf Briefe von Hans Heinrich Festersen, der in den sog. Plötzenseer Todesnächten hingerichtet worden war, sind für die Ausstellung eigens vertont worden. Mit dieser Darstellung kontrastieren aktuellen Werke von Quintan Ana Wikswo und Elizabeth Sweeney, deren dreiteilige Installation „The Unrelenting“ bereits draußen vor dem Museum beginnt. Damit wird Raumanspruch bis vor die Tür des SMU geltend gemacht, umso mehr, bezieht die Künstlerin explizit die durch Gentrifizierung Verdrängten des Kiezes in ihr Konzept mit ein.

Der ideale Körper, the Crip and the Queer

Dass man nach dem dunklen Kapitel durch einen dunkeln Gang hindurch schreiten muss, um der Ausstellung bis zum Ende zu folgen, setzt mit der räumlichen zugleich die sinnfällige inhaltliche Zäsur. Das ist großartiges Verständnis für die Erzählung im Raum.

Foto: Nicole Guether 2023

Im vorletzten Kapitel werden die Ikonen der Bewegung(en) Audre Lorde, Raimund Hoghe und Lorenza Böttner gewürdigt. Das ist starkes, laut sprechendes Gegensignal und leitet zugleich über zum aktuellsten Zeitabschnitt der Ausstellung (Kapitel 8., „Freaking out“). Über diese Abfolge wird zudem kommuniziert, dass es dieser tapferen, kompromisslosen und durchhaltenden Figuren bedurfte – und es solche auch in Zukunft bedarf. Es werden aber auch Fragen aufgeworfen, inwiefern sich die Situation gebessert hat, und was weiterhin verbesserungswürdig bleibt.

Fazit

Die Ausstellungsgliederung ist logisch und stringent, bietet sehr gut aufbereitetes historisches Wissen, das mit aktuellen Positionen kontrastiert, erweitert und in ihnen aufgegriffen wird. Die Querverweise innerhalb der Ausstellung, mit denen ein Netz aus Bezügen geschaffen wird, geben einen vertiefenden Einblick in die Geschichte von Ausgrenzung, und queer-/behinderter Kultur. Der gelungene Einstieg mit dem antiken Schönheitsideal wird in den Sektionen wieder aufgegriffen, über Winckelmann, dem ersten „schwulen Subjekt“ (B. Bosold), der die Kunstästhetik entscheidend mitprägte, und die im 18. Jahrhundert ironischer Weise bürgerliche Norm wird, bis hin zur zitierenden Pose der Venus bei Lorenza Böttner.

Die kontinuierlich gestellten Fragen hinsichtlich Schönheit, Sexualität, Protest, Feminismus und ihrer Verbindung zu Queerness und Behinderung, eröffnen ein Kaleidoskop von intersektionellen Erfahrungswelten. Die Ausstellung thematisiert den aus der Öffentlichkeit allzu lang verbannten Körper mit Behinderung, ganz so, wie Raimund Hoghe die Botschaft seiner Mission einst formuliert hatte: „Diesen Körper gibt es auch.“

Der 2021 verstorbene Journalist, Dramaturg und Tänzer Hoghe wünschte sich seinen Körper nicht anders, nicht dem klassischen Ideal entsprechend schön, jedoch eine schönere Realität. Dass der Weg zu dieser führt, gleichwohl über Hindernisse und Rückschritte hinweg, zeigt diese Ausstellung. Und sie lädt zur Reflexion der eigenen, unbewusst dieser konstruierten Norm anhängenden Vorstellungen ein. Manchmal möchte man den Künstler:innen besonderen Mut attestieren, doch lehrt uns die Ausstellung, dass dies nicht erforderlich ist. Die Künstler:innen arbeiten mit dem, was sie bewegt, wie alle Künstler:innen das tun.

Wir alle werden angehalten uns zu überdenken, dass beginnt schon mit der Art der Hängung, die sich nicht an die übliche Normhöhe von Ausstellungen orientiert, sondern fast durchgehend auf der Höhe von Rollstuhlfahrern erfolgt. Nicht zuletzt haben auch queer/behinderte Künstler:innen und Kurator:innen die Ausstellung entwickelt. Die Texte sind zweisprachig und in einfacher Sprache vorhanden, es führen Audio- und Videoguids durch die Ausstellung, Tastmodelle von Exponaten, ein taktiles Bodenleitsystem und die Verschriftlichung von Audioarbeiten machen die Ausstellung inklusiv und breit zugänglich.

Wir sind alle angesprochen.

*Ob Genderstern, -unterstrich oder -Doppelpunkt: Alle diese Interpunktionen sind Ausdruck für die gedankliche Inklusion von Frauen, Transgender und jenen, die sich keinem Geschlecht eindeutig zugehörig fühlen und im Allgemeinen Maskulin ohne Repräsentanz bleiben. Der sog. Gender-Doppelpunkt ist nur die jüngste Form der gendergerechten Schreibweise und gilt als Leser:innenfreundlicher und wird daher von der Autorin verwenden, wenn auch z.B. das Schwule Museum* mit dem Genderstern arbeitet.

Queering the Crip, Cripping the Queer

2.9.22 – 30.4.23

Schwules Museum Berlin

Kurator:innen: Birgit Bosold, Kenny Fries und Kate Brehme

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