„Die Kritik der praktischen Ausstellung“ Oder „Was darf ich von einer Kant-Ausstellung erhoffen?“ – von Marc Kukawka

Das geistige Schwergewicht der deutschen Philosophie wurde vor 300 Jahren geboren. Schon vor dem Geburtstag am 22. April widmet die Bundeskunsthalle in Bonn ihm die Ausstellung „Immanuel Kant und die offenen Fragen“. Diese ist vom 24. November 2023 bis zum 30. März 2024 zu sehen.

Mir stellt sich die Frage, wie man die Werke eines Philosophen ausstellen kann, deren Essenz in Textform und intellektueller Tiefe liegt. Immanuel Kants Hauptwerke – „Kritik der reinen Vernunft“, „Kritik der praktischen Vernunft“ und „Kritik der Urteilskraft“ – sind umfangreich und umfassen jeweils Tausende von Seiten. Hinzu kommen zahlreiche kürzere, aber ebenso einflussreiche Schriften wie „Zum ewigen Frieden“ oder sein Artikel „Was ist Aufklärung?“, die in der Philosophie, Ethik und Politik bedeutende Spuren hinterlassen haben.

Kants Schriften zeichnen sich nicht nur durch ihren Umfang, sondern auch durch ihre Komplexität aus. Seine Themen sind universell und befassen sich mit grundlegenden Fragen wie der Entstehung von Erkenntnissen und der Bedeutung des Menschseins.

Die Sprache Kants, eines Intellektuellen des 18. Jahrhunderts, der sich an ein gebildetes Publikum wandte, ist entsprechend komplex und verwinkelt. Der längste Satz aus der „Kritik der reinen Vernunft“ ist in etwa so lang, wie diese Rezension bis hierhin.

Seine Gedankenführungen sind anspruchsvoll und verschachtelt, was Generationen von Studierenden vor die Herausforderung stellt, Konzepte wie den kategorischen Imperativ von der Goldenen Regel zu unterscheiden.

Kant scheint somit auf den ersten Blick das Gegenteil eines geeigneten Themas für eine Ausstellung zu sein. Wer Kants Ideen verstehen möchte, sollte lieber zuhause bleiben und lesen, anstatt durch die Weltgeschichte herum zu reisen – genauso, wie es Kant selbst bevorzugte.

Eine Ausstellung muss daher mehr bieten, sie muss ihre Räumlichkeit durch sinnliche Eindrücke und Interaktivität rechtfertigen und nicht bloß auf reine Flachware wie Texte und Bilder setzen. Die Herausforderung besteht darin, die Textlastigkeit zu überwinden und die großen Ideen Kants auch sinnlich erfahrbar zu machen. Gelingt es der Ausstellung, diese Ambitionen zu verwirklichen?

Foto: Marc Kukawka 2023

Am Eingang der Ausstellung werden die Besucher von einem einführenden Video empfangen, in dem Fachleute und Jugendliche die grundlegenden Fragen Kants vorstellen und erläutern. „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ Dieses Video dient dazu, die räumliche und thematische Struktur der Ausstellung zu veranschaulichen.

Das Eingangsvideo verdeutlicht zudem, dass die Ausstellung sich insbesondere an ein junges Publikum richten soll – an jene, die sich aktuell im Deutsch- und Ethikunterricht mit Kants anspruchsvollen, aber oft als trocken empfundenen Werken auseinandersetzen müssen. Die Ausstellung zielt darauf ab, einen anderen Ansatz zu verfolgen: Sie möchte den Menschen Kant und seine Zeit in den Vordergrund rücken, anstatt sich ausschließlich auf seine Philosophie zu konzentrieren.

Foto: Marc Kukawka 2023

Im Inneren strahlt einem dann das mediale Herzstück der Ausstellung entgegen, eine simulierte Version von Kants Heimat- und Schaffensstadt Königsberg im 18. Jahrhundert, die auf eine Leinwand projiziert wird. Diese detailreiche und grafisch beeindruckende Simulation dürfte bei dem jungen Publikum Assoziationen zu Videospielen wie „Assassin’s Creed“ wecken.

Verteilt in der Ausstellung kann das Publikum an verschiedenen Stationen die virtuelle Welt Königsbergs auf Monitoren und über Projektoren sowie mittels VR-Brillen erleben. Allerdings funktioniert dies teilweise nicht reibungslos. Während meines Besuchs waren einige der VR-Brillen außer Betrieb, und bei anderen gab es technische Probleme, wie eingeschränkte Bewegungssteuerung oder die Wiedergabe falscher Filme.

Ungeachtet der technischen Herausforderungen, die mit den VR-Brillen einhergehen, ist das Konzept, in die Rolle Kants zu schlüpfen und seine Heimatstadt zu erkunden, durchaus ansprechend. Jedoch bieten die vorprogrammierten Szenen zu wenig Erzählung und Informationen, um den beträchtlichen technischen Aufwand, der dafür betrieben wurde, vollständig zu rechtfertigen.

Foto: Marc Kukawka 2023

Besser hat mir die Comicwand gefallen, die chronologisch das Leben Kants nachzeichnet. Wie ein roter Faden zieht sich ein Zeitstrahl durch die gesamte Ausstellung und präsentiert die Schlüsselereignisse und Meilensteine seines Lebens. Die ganze Wand nutzend sind hier kurze Comicstrips und Zeichnungen zu sehen, die amüsante Anekdoten aus seinem Privatleben offenbaren, sowie interessante Statistiken, und Karten.

Foto: Marc Kukawka 2023

Besonders hier wird der Mensch Kant sichtbar, und das nicht nur durch die hervorragende Illustrierung, sondern auch durch die Präsentation zahlreicher persönlicher Gegenstände. So bekommt man einen Eindruck von der physischen Statur des geistigen Giganten – er war 1,57 groß -, wenn man sich seine winzigen Schuhe anschaut. Zudem wird eine Originalausgabe der „Kritik der reinen Vernunft“ ausgestellt.

Foto: Marc Kukawka 2023

Mein bisheriges Bild von Kant als strebsamem, aber provinziellem, einsamem und asketischem Denkarbeiter hat sich durch den Besuch der Ausstellung relativiert. Dort wurde mir ein lebendigeres Bild vermittelt: das eines humorvollen, lebensfrohen Menschen, der im regen Austausch mit den großen Denkern seiner Zeit stand und von seinen Studierenden nicht nur fachlich geschätzt, sondern auch menschlich gemocht wurde.

Foto: Marc Kukawka 2023

An verschiedenen Stationen der Ausstellung besteht die Möglichkeit, selbst zu experimentieren und zu entdecken, beispielsweise durch Schreiben mit einer Feder oder das Durchführen einfacher physikalischer Experimente, Das weist auf Kants Verbindung zur naturwissenschaftlichen Aufklärung hin. So richtig verfangen diese interaktiven Elemente jedoch nicht, da es vor allem geistige Experimente sind, zu denen Kant uns einlädt. Diese plastisch darzustellen gelingt den Ausstellungsmachern nicht.

Foto: Marc Kukawka 2023

Entlang des Mittelgangs der Ausstellung sind zahlreiche Seiten aus Kants Werken ausgestellt, um einen Einblick in sein literarisches Schaffen zu gewähren und seine Gedankenwelt sowie Philosophie zugänglich zu machen. Um die Übersichtlichkeit zu erhöhen und das Lesepensum zu reduzieren, sind wichtige Passagen gelb hervorgehoben und mit erläuternden Kommentaren sowohl von Fachleuten als auch von Laien versehen.

In Videostationen kommen Fachleute zu Wort und erläutern ihr Verständnis von Kants Schriften. Wer viel Geduld und Interesse aufbringt, könnte hier auf seine Kosten kommen, um sich der Gedankenwelt Kants zu nähern. Die wenigsten werden jedoch etliche Stunden im Stehen und vornübergebeugt mit der Lektüre seiner Werke verbringen oder Experteninterviews schauen.

Kants problematische Ansichten, wie seine Haltung zum Judentum, zu Frauen oder anderen Ethnien und Kulturen, sind in der Ausstellung zwar präsent, man muss sie jedoch suchen. Sie verstecken sich in Texten und Experteninterviews, die diese Problematiken zwar aufzählen, aber trotz Kooperation mit dem Forschungsprojekt „Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in Werken der Klassischen Deutschen Philosophie?“ der Friedrich-Schiller-Universität Jena, eher oberflächlich abhandeln.

Die Ausstellung nimmt eine kritischere und sichtbarere Haltung ein, wenn sie den Universalanspruch der Aufklärung hinterfragt. Besonders wird dabei auf die Schattenseiten eingegangen, die mit der europäischen Aufklärungsbewegung verbunden sind. Sie erwähnt, wie dieser Anspruch oft mit eurozentrischen und kolonialistischen Perspektiven verwoben war.

Foto: Marc Kukawka 2023

In der Ausstellung sind, wie es sich für die Bundeskunsthalle gehört, zahlreiche Kunstinstallationen und Bilder verteilt. Diese bieten eine willkommene Abwechslung zur intellektuellen Arbeit im Mittelgang und ermöglichen es den Besuchern, ihre Gedanken schweifen zu lassen und eigene Ideen zu entwickeln. Werke von Anselm Kiefer, Joseph Beuys und anderen bekannten Künstlern beziehen sich lose auf die Thematik der Ausstellung und schaffen so eine gelungene Verbindung zwischen Geschichte, Philosophie und Kunst.

Zum Abschluss führt der Weg durch ein Spiegellabyrinth, das dazu anregt, über Kants letzte fundamentale Frage „Was ist der Mensch?“ nachzudenken, bevor es die Besucher ins Freie führt.

Foto: Marc Kukawka 2023

Wir erfahren in der Ausstellung viel über Kants Privatleben, seine Heimatstadt, zeitgenössische Einflüsse und andere Denker. Wer seine Moralphilosophie verstehen möchte, muss viel Zeit und Stehvermögen mitbringen um hunderte ausgewählte Seiten seiner Werke mitsamt den Anmerkungen durchzuarbeiten und zu verstehen. Die Quadratur des Kreises gelingt also auch dieser Ausstellung nicht, ihre Stärke liegt jedoch in der lebendigen Darstellung Kants Lebenswirklichkeit. Die Ausstellung kontextualisiert gut, das konzentrierte Wälzen seiner Werke ersetzt sie indes nicht. Besucher ohne Vorwissen über Kants Philosophie könnten enttäuscht werden, wenn sie erhoffen, diese hier unterhaltsam vermittelt zu bekommen. Für diejenigen, die eine bereichernde Ergänzung zu ihrem eigenen Studium von Kants Philosophie suchen, ist die Ausstellung jedoch sehr empfehlenswert.

Vielleicht wäre es effektiver gewesen, Kants Ethik stärker auf aktuelle Probleme und Fragen unserer Zeit anzuwenden. Dies hätte nicht nur dazu beigetragen, seine Philosophie anschaulicher zu machen, sondern auch ihre fortwährende Relevanz im 21. Jahrhundert zu unterstreichen. Der einzige Bereich in der Ausstellung, der einen klaren Bezug zur Gegenwart herstellt, befasst sich mit Kants Ideen zu universellen Menschenrechten und zwischenstaatlicher Organisation in seinem Werk „Zum ewigen Frieden“. Den Titel entlehnte Kant übrigens humorvoll einer örtlichen Kneipe .

Die Ausstellung kann leider nur einen geringen Beitrag dazu leisten, Kants Ideen einem jüngeren Publikum und Laien verständlich, interaktiv und unterhaltsam zu vermitteln. Dennoch bietet sie die Möglichkeit, einen tieferen Einblick in Kants Persönlichkeit und sein zeitgenössisches Umfeld zu erhalten.

Vielleicht brauchen wir in Zeiten zusammenbrechender internationaler Beziehungen und emotionale Fremdsteuerung der Menschen durch billigen Populismus, Kants Philosophie mehr denn je.

Kunsthalle der Bundesrepublik Deutschland, „Immanuel Kant und die offenen Fragen“, 24. November 2023 bis 30. März 2024

Kuratierung: Agnieszka Lulinska, Thomas Ebers

Gestaltung: Sunder-Plassmann & Werner Szenografie (Carlotta Werner, Johanna Sunder-Plassmann, Jessica Lang, Anja Heidenreich, Nathalie Nierengarten, Vanessa Schwarzkopf)

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