„Beirut and the Golden Sixties: A Manifesto of Fragility“ im Gropius-Bau Berlin – von Nicole Guether

Kunst entsteht immer, ob in den Ruinen zerbombter Städte, oder in Zeiten innerer Ruhe. Das Schreckliche, wie das Schöne regen kreative Geister zum Schaffen an.

Die 1960er Jahre waren aus westlicher Perspektive in vielerlei Hinsicht eine kulturell vielschichtige Epoche. In Musik und Mode bestritt man neue Wege der Ästhetik und der ungeahnten Freizügigkeit. In sozialen Bewegungen und jugendlicher Revolte wurde für Frieden, zivile Rechte und gegen Krieg gestritten. Die sexuelle Revolution liberalisierte Körper und Geist. In der Kunst herrschte, zumindest in der westlichen Welt, noch immer die Abstraktion als Stil einer unbefangenen, demokratischen Weltsprache vor. Dieser eurozentrische, oder west-zentristische Blick auf das Jahrzehnt lässt derweil eine Stadt außer Acht, die durchaus gleichrangig mit den Kunstzentren New York, London und Paris genannt werden kann.

Foto: Nicole Guether 2022

Beirut – Das Paris des Orients

Für die Region der Levante, des Nahen Ostens, nahm Beirut eine singuläre Stellung ein. In der umkämpften Region war die Stadt ein Schmelztiegel der Kulturen und Einflüsse, mit einer vibrierenden Kulturszene.

Zur „Schweiz des Orients“ wurde der Libanon infolge seiner Liberalisierung des Bankgesetzes 1956, wodurch neues Geld einströmte, das moderne Entwicklungen begübstigte. Die Hauptstadt Beirut galt als das „Paris des Nahen Ostens“. Das kann man nicht nur so lesen, weil viele der in Beirut lebenden Künstler:innen ihre Ausbildung in der französischen Hauptstadt absolvierten. Paris war wie Beirut lange inoffizielle Kulturhauptstadt, was in ihr geschah, fand breite Nachwirkung.

All das fand ein jähes Ende ab Anfang der 1970er Jahre, deren Spannungen und Konflikte in dem bis 1990 währenden, fünfzehnjährigen Bürgerkrieg kulminierte.

Eine Ausstellung wie ein Bilderatlas

Den Anfang der Ausstellung machen zwei Bilder: Das eine, mittelgroß im Format, gemalt 1958 von Khalil Zgaib im naiven Stil zeigt eine Strandszene. Es behandelt die Landung US-amerikanischer Truppen, die dem Ruf des damaligen, christlichen Staatspräsidenten Chamoun zur Unterstützung gegen opponierende Gruppen folgten, nachdem dieser unter dem Verdacht von Wahlmanipulationen drauf und dran war aus dem Amt geputscht zu werden. Die daneben installierte, groß aufgezogene Reproduktion einer Schwarz/Weiß-Fotografie zeigt denselben Strand, allerdings zeigt sie zwei Frauen beim Baden im Meer. Sie sind fröhlich, lachen frei, so als sei das Leben ein unbeschwertes joie de vivre.

Foto: Nicole Guether 2022

Zwei verschiedene Zustände werden hier nebeneinandergesetzt und doch referieren sie auf ein und denselben Ort, zeitlich nur wenig auseinander. Damit stehen sie sinnbildlich für die Pole zwischen denen sich der Libanon spätestens seit seiner Unabhängigkeit 1943 zu bewegen scheint. Die Bilder geben den Ton der Ausstellung vor: Das Nebeneinander von Gewalt und Aufbruch, das Zwischen-den-Welten, das den Libanon bis heute bestimmt. Ein Hin und her zwischen freiheitlicher, kultureller Blüte und politischen Wirren, Gewalt und Instabilität.

Im Einführungstext zur Ausstellung heißt es, man wolle mit der „romantisch verklärten Phase des globalen Einflusses“, dem der Libanon ausgesetzt war, aufräumen und zeigen wie der „Zusammenprall zwischen Kunst, Kultur und polarisierten politischen Ideologien die Beiruter Kunstszene in einen Mikrokosmos größerer, transnationaler Spannungen verwandelte“. Beirut wird hier als das Zentrum von Kultur sowie der politischen Spannungen gezeichnet.

„Notion of Identity“

Unter Eindruck der bis heute anhaltenden Krisen beabsichtigen die Ausstellungsmacher das Beirut der 1960er Jahre, als den „entscheidenden Moment in der Geschichte der Moderne“, einer Neubetrachtung zu unterziehen, um Zusammenhänge von vergangenen und gegenwärtigen Kämpfen darzustellen.

Die Fragestellung der Kuratoren Sam Bardaouil und Till Fellrath nach der Identität dieser Stadt, die permanent am Entstehe und Vergehen zu sein scheint, wird in der rohen Ausstellungsarchitektur offener Holzkonstruktionen optisch aufgenommen, die das permanent Veränderliche und Im-Entstehen-Begriffene vor Augen führt.  

In den elf Räumen der Ausstellung breitet das Kuratorenduo eine Erzählung von Chance und Unaufhaltsamkeit aus und dirigieren uns Betrachter:innen langsam immer tiefer hinein in die Misere aus anhaltend multikonfessionellen und multiethnischen Konflikten, politischer Inkompetenz und Nachlässigkeit.

Inhaltlich strukturiert und sinnreiche Querverweise

In den großen Räumen der oberen Etage des Gropius-Baus, in unmittelbarer Nähe zum Potsdamer Platz, der in Berlins Roaring Twenties kultureller Hotspot war und im Zweiten Weltkrieg zum Ground Zero wurde, stellen die Kuratoren die Konstruktionen quer zum Raum, schaffen so Zwischenräume und Sichtblenden wie -achsen. In der inhaltlichen Ordnung folgen auf Sektionen wie zur Darstellung des Körpers, die eine für die Region erstaunliche Freizügigkeit offenbart, solche zur lokalen Artikulation der verschiedenen modernistischen Tendenzen, um nahtlos anhand der künstlerischen Auseinandersetzung zu den politischen Kämpfen zu gelangen. Auf diese Weise wird die ästhetisch-künstlerische Bildsprache immer in direktem Dialog mit den zeitgenössischen Verhältnissen gesetzt.

Derweil ist die in fünf Hauptsektionen gegliederte Schau unwillkürlich in ein davor und während des Krieges unterteilt.

Tradition und Moderne

Mit den sich Anfang der 1970er Jahre schnell verstärkenden sozialen Spannungen rücken in der Kunst zunehmend Introspektiven in den Fokus. Künstlerinnen wie Juliana Seraphim widmen sich dem vorislamischen, sumerischen Erbe, während diverse textile Arbeiten, so zum Beispiel bei Etel Adnan und Nicolas Moufarregein, für eine libanesische Tradition einstehen, aber moderner Interpretation.

Die Ausstellung räumt auch auf mit dem westlichen Blick auf die islamische Welt, der vom Stereotyp des religiös-dogmatischen Fundamentalismus geprägt ist. Der Islam taucht als Traditionsrahmen nur wenig auf und wenn dann als kaligraphische Chiffre, beinah als bloßes Ornament. Der Fokus der Schau liegt auf dem libanesischen Dialog mit der westlichen Moderne, sowie der Darstellung einer sehr selbstständigen und souveränen Kunstszene.  

Foto: Nicole Guether 2022

„Blood of the Phoenix“

Bis der Krieg zum dominierenden Gegenstand wird. Als mit dem Tod des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser, dessen Gesicht in einer reproduzierten Archivaufnahme groß von der Wand prangt, 1970 die panarabische Identifikationsfigur starb, mit der Errichtung des PLO-Hauptquartiers in Beirut der Palästinensisch-Israelische Konflikt in den Libanon exportiert wurde und schließlich ein Ölembargo den Libanon restlos lähmte, endeten die goldenen Sixties.

Werden zu Ausstellungsbeginn noch das Sursock-Museum, die Gallery One sowie der Kunstraum Dar El Fan als Räume des Austausches vorgestellt, dominieren mit Kriegsausbruch unbestimmbare Nicht-Orte, die auf die libanesische Diaspora Bezug zunehmen scheinen. Beirut zerfiel in Einflussbereiche wie der Rest des Landes. Der Exodus nahm seinen Lauf. Die Politisierung der Kunst setzte neue Themenschwerpunkte auf Leid, Krieg und Tod, rief aber auch zu Solidarisierung auf.

Neuentdeckungen moderner Kunst

Viele Entdeckungen lassen sich in dieser Ausstellung machen, sowohl von Künstler:innen wie von Werken, die in den Kanon einer internationalen Kunstgeschichte Eingang finden sollten. So das großformatige Werk Paul Guiragossian als abstrahierte Interpretation des Trauerzugs zur Beerdigung Gamal Abdel Nassers 1970. Oder das Werk Palestinian Woman (1966) von Rafic Charaf, das eine arabische Ikone ähnlich dem Afghan Girl, einst von Steve McCurry fotografisch festgehalten, ist. Sowie das Werk The Changing of the Horses von Aref El-Rayess, das ein arabisches Guernica scheint. Ebenso sollten El-Rayess Radierungen nach Kohlezeichnungen hierzulande ebenso bekannt sein wie die Anti-Kriegsserie zum Ersten Weltkrieg von Otto Dix.

Hervorzuheben sind ebenfalls die Fülle an hervorragenden Werken von Künstlerinnen, allen voran die ironischen Körperbilder von Huguette Caland, die Webteppiche von Simone Baltaxé Martayan sowie die Skulpturen von Salona Raouda Choucair, die sich Versen islamischer Poesie als Grundlage ihrer modernen Skulpturen bediente.

Die Kunst Beiruts ist eine von internationalem, nicht allein lokalem Rang. Das beweist die Ausstellung ohne Zweifel. Auch jenseits der ohnehin viel zu spät entdeckten Grande Dame Etel Adnan (1925-2021) und Simone Fattal, die mit einem faszinierenden Video-Autoporträt vertreten ist. Adnans Biografie markiert Eckdaten, die viele der gezeigten Künstler:innen teilen: Ausbildung im Ausland, in den USA und Frankreich, wurde sie durch die sie ereilte Bedrohung durch christliche Phalangisten ins Exil gedrängt. Auch Adnan verlies ihr Heimatland mehrere Male, kehrte aber immer wieder zurück.

Hommage und Epilog

Die Ausstellung endet in der Sound- und Video-Installation As night comes when day is gone der Künstler:innenduo Joana Hadjithomas und Khalil Joreige. Sie stellt einen Zeitsprung von mehreren Jahrzehnten dar und führt uns per Überwachungsaufzeichnung des Sursock-Museums zum 4. August 2020. Dem Tag als mit einer gewaltigen Explosion im Herzen Beiruts erneut Tod und Zerstörung über die einst so glanzvolle Stadt hereinbrach. Der hiermit geschaffene Gegenwartsbezug erinnert, dass das Drama des Landes keineswegs mit dem Ende des Bürgerkriegs 1990 vorbei war.

Eines der letzten Werke, vor dem Raum mit der Installation, zeigt die einzige Arbeit, die nach dem besprochenen Zeitraum entstanden ist. Die große, querformatige Arbeit von Huguette Caland von 2012, in den leuchtenden Farben eines hoffnungsvollen Optimismus, stellt eine malerische Zusammenstellung der Geschichte Libanons von der Unabhängigkeit 1943 bis zum Ende des Bürgerkrieges. Daneben ist wieder eine Reproduktion einer Fotografie großformatig installiert. Sie zeigt, wie schon zum Beginn der Ausstellung, die lachenden Gesichter zweier Mädchen. Symbol der Hoffnung.

                                                                      

Fotos: Nicole Guether 2022

Fazit

Die Ausstellung setzt die rund 200 Kunstwerke als Überreste, Artefakte einer untergegangenen Epoche ein. In Vitrinen werden Archivstücke, Plakate und weitere Gegenstände gezeigt. Oft werden die Arbeiten in direktem Zusammenhang mit foto-dokumentarischen Hintergrundfolien gestellt, es zeigt unmittelbar das direkte Nebeneinander von kreativen Schaffen in der zunehmend bedrohlicher werdenden Atmosphäre aufziehender politischer Krisen, Kämpfe und Kriege.

Die informativen Raumtexte hätten bei der Fülle ruhig auf größeren Tafeln aufgebracht werden dürfen. Dafür finden sich die Texte aber auch auf der Homepage des Gropius-Bau, wo es zudem eine Chronologie des Landes sowie biografische Angaben aller 36 ausgestellter Künstler:innen gibt. Auf der Instagram-Seite des Museums gibt es obendrein einen sehr informativen Sneak Peak mit dem Kurator Sam Bardaouil.

„The Golden Sixties: A Manifesto of Fragility“ zeigt in unserer eigenen, hochfragilen Epoche, wie anfällig Frieden, Demokratie und freiheitliche Selbstbestimmung sind. Der Titel gibt es vor: In der Blüte ist das Fragile bereits angelegt.

„Beirut and the Golden Sixties: A Manifesto of Fragility” ist bis zum 12. Juni 2022 im Gropius-Bau in Berlin zu sehen.

Kuratoren: Sam Bardaouil und Till Fellrath

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