Die Pinacotheca di Brera in Mailand. Über eine der unbekanntesten wichtigen Sammlungen Italiens und die Rolle von Museen – von Nicole Guether

“There is more to the museum than just paintings on the wall!”

Mit diesen Worte werden die Besucher:innen der Pinacotheca di Brera in der neugestalteten Lobby vor ihrem Eintreten in die Sammlungsausstellung begrüßt. Sie sind programmatisch zu verstehen, denn das Brera sieht sich als „eines von wenigen Museen weltweit“, dass die Kernaufgaben des Museums sichtbar macht und damit mehr bietet als einen „Ort für verregnete Sonntage“. Darüber hinaus versteht es sich als Ort des aktiven Kulturschaffens, „a place for engagement, not amusement, isolation or separation“.

Diese Vision hatte in den 1970er Jahren schon der wegweisende Direktor Franco Russoli († 1977) entworfen. Doch es war der jüngst im September 2023 aus dem Amt des Direktors geschiedene Kanadier-Brite James Bradburne, der nach seinem Antritt 2015 mit großen Schritten die Verwirklichung anging. Dafür nutzte der erfahrene Museumsmanager die Zeit der Pandemie bedingten Schließung, und verfolgte ein Konzept, das seither von immer mehr Museen beschworen wird.

Das Brera: Einblick in die Kultur Italiens

Anders als viele Museumssammlungen geht die des Brera auf die Plünderungen während Napoleons Italienfeldzug zurück, weshalb es insbesondere sakrale Gemälde aus der Lombardei, dem Veneto, der Emilia und der Mark beinhaltet.

Foto: Nicole Guether, 2023

Die Sammlung, mit Schwerpunkt auf der oberitalienischen Malerei des Trecento, der Renaissance und des Barocks, hält einige der wichtigsten Werke der Kunstgeschichte bereit. Es sind Klassiker jedes Studiums, wie Raffaels „Vermählung Marias“, Mantegnas „Beweinung Christi“, Tintorettos „Bergung des Hl. Markus“, oder Bronzinos „Andrea Doria als Neptun“. Des Weiteren gehören dazu Werke der Venezianer Gentile und Giovanni Bellini, Fresko von Bramante, sowie Pierro della Francesca, Sofonisba Anguissola, Tizian, Caravaggio, Carracci, Reni und Guercino. Erweitert um Werke von Umberto Boccioni und Amadeo Modigliani, um nur die bekanntesten modernen Meister zu nennen, reicht die Sammlung bis ins frühe 20. Jahrhundert und beinhaltet mit Werken u.a. von Rembrandt, Rubens und van Dyke auch Meister nördlich der Alpen.

Seit der 2016 eingeläuteten aufwändigen Neugestaltung sind die 38 Räume als eine Reise durch die Zeit seit dem 13. Jahrhundert angelegt. Sie behandeln vornehmlich die oberitalienischen Malschulen und deren Stile. Mit dieser doppelten Lesart gelingt die Darstellung der Vielfalt und des Erfindungsreichtums der italienischen Malerei, womit das Brera, wie der Raumtext sagt, zugleich der „perfekte Ausgangspunkt (sei) für ein tiefergehendes Verständnis der Kultur Italiens“ (Übersetzung N.G.).

Die fünf Finger der „Hand des Museums“

Innerhalb von drei Jahren wurden die Räume sukzessive farbig gestrichen und die Hängung komplett neu organisiert, wie mir im Gespräch von einer Angestellten berichtet wird. Die neuen Wandfarben (zuvor strahlten sie im grellen Weiß) verleihen den Räumen nicht nur eine angenehme Atmosphäre, sondern unterstützen unsere „Reise durch Zeit und Raum“. So gibt z.B. das wunderbare Ultramarin, als Farbe des 15. Jahrhunderts dem Blau des Marienschleiers entlehnt, an, dass wir uns in den Räumen der Renaissance befinden.

Neben diesen Änderungen wurde zudem eine neue Beleuchtung installiert, die Bestuhlung erneuert sowie die Objektbeschriftungen aktualisiert. Nun gibt es neben Texten kunsthistorischen Inhalts (schwarz) und familienfreundlichen (rot) auch solche von eingeladenen „Outsidern“, die ihre individuellen Eindrücke zu speziellen Werken wiedergeben. Das spricht die Besucher:innen auf unterschiedliche Weise an und erleichtert Zugänge. Damit zeigt das Brera außerdem, dass die Angst vieler Museen vor einer allzu aufwändigen Beschilderung, die den Kunstgenuss vor dem Bild stören könnte, ziemlich unbegründet ist.

Einen Bruch mit der üblichen Museumspräsentation stellen indes drei Räume innerhalb der Raumfolge dar, die den Blick auf die Museumsarbeit öffnen: Ein Raum fungiert als Restaurierungswerkstatt. Ein zweiter Saal beherbergt ein Depot und gibt unseren Blick vor allem auf die modernen Werke der Sammlung frei. Ein dritter Saal ermöglicht den Besucher:innen den Einblick in die detektivische Arbeit der Kunsthistoriker:innen und lehrt, wie die Geheimnisse hinter den Werken gelüftet werden.

Fotos: Nicole Guether 2023

An manchen Werken werden Stoff- und Duftproben z.B. von Myrre geboten, womit die Lebenswirklichkeit der Entstehungszeit anschaulich und wortwörtlich greifbar gemacht wird. Die offengelegten fünf Kernaufgaben eines jeden Museums – Sammeln, Aufbewahren, Lehren, Erforschen und Ausstellen – die die „Hand des Museums“ (Joseph Veach Noble) bilden, werden erlebbar.

Schon der erste Raum zeigt anhand von zehn Werken aus unterschiedlichen Epochen an, dass das Brera seine Kunst nicht nur als passive Anschauungsobjekte begreift. Vielmehr will das Haus durch die Kunstwerke die Geschichte der Sammlung selbst erzählen – und damit auch auf die Entscheidungen verweisen, aus denen sie hervorgegangen ist: „Here is not the paintings themselves that are fundamental but what they tell us about how the museum sees itself and its mission.”

Foto: Nicole Guether 2023

Kunstmuseen heute: Inklusion statt Superlativ-Events!

In seiner Neukonzeption des Brera als „sichtbaren Ort“ verfolgt Bradburne die partizipative Beziehung zwischen Museum und Öffentlichkeit. Dazu gehörten zunächst so banale Neuerungen wie die Einrichtung eines Cafés und die Möblierung des Innenhofs, auch ein nun frei zugängliches Wifi. Mit neuer Eingangshalle und neuem Shop sowie einem verbesserten Info-Desk wurde die Wahrnehmung nach außen optimiert.

Nach Bradburnes „Prinzip der maximalen Inklusion“ wurde auch das digitale Angebot mit BreraPlus um ein umfangreiches und selbstproduziertes Programm erweitert, was sich in der Covid-Pandemie als umso dringlicher erwies – und von viele andere Museen ad hoc umgesetzt werden musste. Zur Verringerung von Zugangshemmnissen dient auch die konsequente Zweisprachigkeit.

Neben dieser notwendigen Modernisierung geht es Bradburne bei der Zukunftsgestaltung des Brera auch um das Schaffen einer neuerlichen Wertschätzung. Das Museum verdient genau das, denn fast könnte man es den „Louvre Italiens“ nennen und als solcher war die Pinacotheca immerhin vom französischen Imperator initiiert worden.

Blockbuster-Ausstellungen würden dagegen den Blick für die unermesslichen Schätze der eigenen Sammlungen verstellen. Bradburne: „(we are) turning our backs on the practice of artificially keeping visitor numbers high with temporary ‘blockbuster’ exhibitions“. Stattdessen setzt Bradburne auf sich rhythmisch abwechselnde kleine Dialog-Ausstellungen, die die eigenen Werke in den Fokus (zurück-)bringen. Damit soll der lokalen Bevölkerung die Bedeutung der hauseigenen Sammlung wieder bewusst gemacht werden.

Dialog zwischen Bonnard und Matisse (Foto: Nicole Guether 2023)

Darüber hinaus sei das Format der Großveranstaltungen mit temporären Besucherströmen in Zeiten von Klimawandel nicht mehr verantwortbar. Bradburnes Traum: Nichts weniger als das Zurückdrehen des Uhrzeigers hinter einen Massentourismus, der kaum im Einklang mit der Umwelt stehe. Der Druck in Richtung auf immer weiter steigende Besuchszahlen, habe zu einer „Eventisierung“ der Museen geführt. Sie seien zur massentouristischen Sightseeing-Attraktion geworden und erlebten einen Publikumsandrang, der kaum mehr zu bewältigen sei. Die Verbindung zum lokalen Publikum sei aber verloren gegangen. Mit der Konzentration auf das lokale Kulturerbe sowie mittels eines Angebots, dass das Publikum langfristig bindet, statt mehr Einmal-Besuche zu erzeugen, soll das Museum schließlich, so Bradburne „als – letzter – wirklich öffentlicher, zivilgesellschaftlicher Raum“ positioniert werden.

Fotos: Nicole Guether 2023

Dass das Museum nicht bloß ein „Container (…) mit Objekten, sondern ein Kulturproduzent“ ist, auch kein elfenbeinturmartiger Hort der Hochkultur, der zwar verwahrt, aber nicht selbst hervorbringt, sondern Teil des gesellschaftlichen Wandels, daran glaubt Bradburne leidenschaftlich: „Museums are always contemporary, (and) do not just look back.”

Foto: Nicole Guether 2023

Mission Museum: „Grande Brera“

Dass das Brera tatsächlich noch nicht Italiens Louvre ist, liegt an dem seit 50 Jahren verschleppten Masterplan zum „Grande Brera“, der Vision des früh verstorbenen Superintendanten Franco Russoli. Mit kaum verhehlter Frustration berichtet mir die Museumsangestellte von dem komplexen Plan, der in Verbindung mit dem nur 150 Meter entfernten Palazzo Citterio Platz zum Ausstellen der gesamten Sammlung bieten soll: „We are still waiting.“

Eine Reaktion auf die Verzögerung durch bürokratische und machtpolitische Verschlingungen des italienischen Kultursektors ist die Depotpräsentation in mehreren Sälen des Brera. Auf diese Art werden Werke nicht nur davor bewahrt, in der Versenkung ihrer Depots weit außerhalb Mailands zu verschwinden, sondern gleichzeitig werden spannende Gegenüberstellungen ermöglicht – Gegenwärtigkeit von Kunst, sozusagen.

Auch die Kooperationen des Brera mit seinen benachbarten Institutionen, so namentlich mit dem Botanischen Garten in Form eines besonderen Ausstellungsguides, der uns die Flora der Werke näherbringt, sind Schritte eines umfassenden Plans den gesamten Brera-Komplex zukünftig zur „Avenue of the Science“ auszubauen.

Fazit

Während meines Besuchs konnte ich beobachten, was ich schon lange nicht mehr gesehen habe: Das minutenlange, gemeinsame Verharren der Besucher:innen vor den Werken. Nicht nur ein kurzes Stehenbleiben für das obligatorische Foto. Auch das ist Inspiration.

Manchmal scheint fast vergessen, dass Werke der Kunst einst mit einem bestimmten Zweck geschaffen wurden und nicht nur um ihrer selbst willen. So vermögen sie uns daher immer noch von vergangenen Vorstellungen, Lebenswirklichkeiten und Menschen zu erzählen. Und auch weil vieles davon heute für eine Mehrheit chiffriert im Verborgenen liegt, bemüht sich das Brera dieses Wissen breit zugänglich zu machen und die Kunst an ihren Wänden durchaus auch als Quellen zu deuten.

Ich habe nie verstanden, warum Museen oftmals geizig mit ihrem Wissen umgehen als wäre es ein Mehrgewinn, das Mysterium Kunst aufrechtzuerhalten. Soll damit eine Aura bewahrt werden? Wird so nicht der Zugang erschwert und bleibt damit elitär? An verschiedenen Stellen innerhalb der Ausstellung immer wieder auf andere Art in neue Situationen geworfen und dabei informiert zu werden, soll im Brera ausdrücklich auch Vergnügen bereiten. Das ist erfrischend und belebend. Das Museion wird so zum Ort für (lehrreiche) Entdeckungen. Und das darf und sollte es auch. Zitat Bradburne: “Stimulate people’s curiosity, to fine-tune their critical perception and to expand their visual intelligence”.

Foto: Nicole Guether 2023

Und deshalb liegt m. E. das Problem der Museen in der seit Jahrzehnten einkassierten künstlerischen Bildung. Kunst und Kultur, zumal in Krisenzeiten, wird immer zuerst von der Politik eingespart und gekürzt und das beginnt bereits an den Schulen, wo musische Fächer als „seicht“ abgetan werden. Unwichtig, das kann weg. Doch wenn eine Gesellschaft ihrer nachfolgenden Generation nur den Wert harter Währung mitgibt, dann macht sich das früher oder später bemerkbar. Damit geht Wissen und Wertschätzung verloren. Damit geht kulturelles Erbe verloren. Kommerzialisierung von Kultur mag als Freizeitspaß und zu Schulausflügen Besucher:innen hineinschwemmen, aber zu welchem Mehrwert?

Pinacotheca di Brera, Mailand

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