Das Nationale scheint aktuell eine Konjunktur zu erleben. Zur besseren Einordnung hilft manchmal ein Blick zurück, auf den Nationalismus des 19. Jahrhunderts und die Bildung von Nationalstaaten. Italien ist ein interessantes Beispiel dafür. Es zeigt, wie wenig die „Nation“ etwas Naturgegebenes ist und wie sie im 19. Jahrhundert erst konstruiert und dann Wirklichkeit wurde. Das Turiner Museo nazionale del Risorgimento italiano erzählt die Geschichte der italienischen Nationalbewegung. Es ist das älteste der Risorgimento-Museen Italiens und seit 1938 im Palazzo Carignano beherbergt, einem Höhepunkt italienischer barocker Palastarchitektur und Meisterwerk Guarino Guarinis.

Seit seiner Neueinrichtung 2011 stellt das Museum in 30 Räumen eine Auswahl von 2.579 der insgesamt 53.011 in seinem Besitz befindlichen Objekte aus, darunter Gemälde, Zeichnungen, Druckgraphiken, Karikaturen, Plakate, Karten, Erstausgaben von Büchern, Büsten, Statuen, Möbel, Kutschen, Waffen, Kleidungsstücke sowie Rekonstruktionen.
Die ersten drei Räume präsentieren als eine Art „Museum im Museum“ die Geschichte des Turiner Risorgimento-Museums, dessen Gründungshistorie bis 1878, ins Todesjahr des ersten Königs des geeinten Italiens Vittorio Emanuele II., zurückreicht. Insbesondere der dritte Raum, der die ursprüngliche Ausstattung von 1938 enthält, problematisiert den geschichtspolitischen Umgang der damaligen Kuratoren mit der nationalen Vergangenheit – ihnen ging es darum, die Nationalbewegung so weit wie irgend möglich zu verlängern: Wie eine originale Zeittafel zeigt, ließen sie das Risorgimento mit der Schlacht von Turin 1706 beginnen und bis in die faschistische Gegenwart reichen.
Diese Hintergründe erklärt der Audioguide, der in englischer, französischer und italienischer Sprache erhältlich ist und die wichtigsten Informationen zu jedem Saal bietet. Noch präzisere Erläuterungen bieten die Infotafeln, die in jedem größeren Raum in unterschiedlichen Sprachen – auch auf Deutsch – für die Besucher bereitgestellt sind. Dokumentarfilme ergänzen die an sich klassisch gehaltene Ausstellung; mit dem 17. Raum verfügt das Museum sogar über einen eigenen „Kinosaal“.
Die auf den dritten Saal folgenden 26 Räume, die in farblich voneinander abgegrenzte thematische Sektionen gegliedert sind, erzählen in weitgehend chronologischer Reihenfolge die Geschichte eines „langen“ Risorgimento von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg. Dass unter Historikern kein eindeutiger Konsens über die genauen Epochengrenzen besteht, wird hierbei nicht erwähnt. Positiv hervorzuheben ist, dass das Museum die italienische Nationalgeschichte in ihren transnationalen Bezügen darstellt: Der europäische Kontext wird immer wieder berücksichtigt, wenn es etwa um die Französische Revolution und ihre „Schwesterrepubliken“, Europa unter napoleonischer Besatzung, die französische Julirevolution von 1830, die Revolutionen von 1848 oder das bürgerliche Leben in Europa 1870–1915 geht. Auch die Probleme des jungen Nationalstaats wie der Bürgerkrieg im Süden gegen die sogenannten Briganten oder die „Römische Frage“ – Rom gehörte 1861, zum Zeitpunkt der italienischen Nationalstaatsgründung noch zum Kirchenstaat und wurde erst 1870/71 vom Königreich Italien annektiert – werden nicht ausgeblendet. Die Dauerausstellung behandelt sowohl die demokratischen als auch die moderaten und konservativen Kräfte des Risorgimento: So ist der achte Raum nicht nur der „Restauration“ gewidmet – ein Begriff, den man vor dem Hintergrund der aktuellen historischen Forschung vielleicht stärker hätte problematisieren können. Er behandelt auch die Geheimgesellschaften, unter denen die Carboneria anfangs die führende Stellung einnahm, und die frühen Revolutionen der 1820er-Jahre. Mit einer Büste des Revolutionärs Giuseppe Mazzini im Zentrum befasst sich der zehnte Raum eigens mit den Aufständen der 1830er-Jahre und der Rolle der demokratischen Bewegung. Der folgende Saal hat die liberalen Kräfte zum Gegenstand, die durch Reformen „von oben“ die nationale Einigung verwirklichen wollten. Ebenso werden weitere Protagonisten des Einigungsprozesses thematisiert. Der Guerillaführer Giuseppe Garibaldi taucht mit einer lebensgroßen Rekonstruktion zu Pferde in Raum 22 auf (s. Abb. 2). Auch der piemontesische Ministerpräsident Camillo Benso von Cavour und König Vittorio Emanuele II. (Raum 18) werden ausreichend gewürdigt.

Die Wandfarbe der einzelnen Säle hat dabei symbolische Bedeutung: So steht etwa das Rot des fünften Raums, der die französische Besatzung Italiens und das revolutionäre Triennium 1796–99 behandelt, für das während der Revolution verflossene Blut, während der siebte, Napoleon gewidmete Saal sich in einem majestätischen Gelb präsentiert. Didaktisch ansprechend gestaltet ist die große Karte auf dem Boden desselben Raums, das die napoleonische Herrschaft 1812 zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung zeigt und sämtliche wichtige Schlachten verzeichnet.


Abb. 3 und 4. Fotos: Pascal Oswald 2025
Einige Ausstellungsstücke hinterlassen einen besonderen Eindruck: So ist im vierten Raum die Rekonstruktion eines gewaltigen jakobinischen Freiheitsbaums mit einer phrygischen Mütze aufgestellt (s. Abb. 4). Der neunte Saal bietet eine inszenierte Gefängniszelle mit dem Original-Lesepult und den Handschellen des Schriftstellers Silvio Pellico, der von 1820–30 in der Festung Spielberg in Brünn inhaftiert war (s. Abb. 5). Seine autobiographische Schrift „Le mie prigioni“, mit der er die Haft aufarbeitete, entfaltete große Wirkungskraft auf die nationale Bewegung. In Raum 12 werden die originalen Notenblätter des „Canto degli Italiani“, der heutigen italienischen Nationalhymne, ausgestellt, die Goffredo Mameli 1847 niederschrieb und Michele Novaro vertonte.

Saal 13 wird von einer gewaltigen österreichischen Druckpresse dominiert, welche die im März 1848 erkämpfte Pressefreiheit im Habsburgerreich symbolisiert. In Raum 14, der dem „Ersten Unabhängigkeitskrieg“ 1848–49 gewidmet ist, befindet sich das Feldzelt des piemontesischen Königs Carlo Alberto (s. Abb. 6).

Zudem zeigt die Ausstellung bekannte Gemälde der Zeit, so den Bilderzyklus Carlo Bossolis zum Italienfeldzug der Armee des Königreichs Sardinien-Piemont 1859–60, Gerolamo Indunos „Sentinella garibaldina“ oder Michele Gordigianis Cavour-Porträt. In Saal 15 können Besucher die originalen Möbel des Zimmers ansehen, in dem der König Sardinien-Piemonts Carlo Alberto im portugiesischen Exil 1849 den Tod fand: Nach der Niederlage von Novara gegen die habsburgischen Truppen hatte er zugunsten seines Sohnes Vittorio Emanuele II. abgedankt. Raum 25 rekonstruiert das mit Originalmobiliar ausgestattete Büro des 1861 verstorbenen Cavour. Die seltenen Photographien James Robertsons in Raum 19 dokumentieren den Krimkrieg, an dem sich auch das Königreich Sardinien-Piemont beteiligte. Zweifelsohne das Herzstück des Museums stellt jedoch die Camera dei Deputati des Parlamento subalpino (Raum 16) dar, die hier von 1848–60 tagte. Der Saal verfehlt nicht seine Wirkung auf den Betrachter, auch wenn der Historiker Ferdinand Gregorovius bei einem Besuch in Turin 1862 abschätzig urteilte, er sei „neugebaut, ohne Luxus, und klein“.
Der letzte Raum, der die neue Camera dei Deputati des Königreichs Italien hätte beherbergen sollen, wurde tatsächlich nie benutzt, da die Hauptstadt 1865 nach Florenz und 1871 nach Rom verlegt wurde. Heute werden hier zehn Monumentalgemälde ausgestellt.
Besucherinnen und Besucher des Museums sollten ausreichend Zeit, Interesse und Geduld mitbringen. Allen, die ohne Führung oder Audioguide unterwegs sind, gewähren die bereitgestellten Tafeln ein sicheres Geleit durch die Vielzahl von Ausstellungsstücken. Die Sammlungen des Turiner Risorgimento-Museums sind beeindruckend, die chronologische Ordnung, in der sich die Ausstellung präsentiert, ist sinnvoll, und es ist positiv zu bewerten, dass die hochwertigen Ausstellungsobjekte nicht hinter interaktiven Multimediafunktionen zurücktreten. Gleichwohl stellt sich dem Rezensenten die Frage, ob es nicht sinnvoller wäre, im Sinne didaktischer Reduktion die Zahl der Ausstellungsobjekte noch weiter zu verringern: Insbesondere Besucherinnen und Besuchern ohne Vorwissen droht die Gefahr, von der Überfülle an Exponaten regelrecht erschlagen zu werden. Auf der anderen Seite gilt die Redewendung „variatio delectat“: Bei einem wiederholten Besuch der umfangreichen Sammlung gibt es mit Sicherheit Neues zu entdecken!
Museo Nazionale del Risorgimento Italiano, Turin (mit 360°-Fotos verschiedener Räume)


















