Gladiatoren im VR-Kino
Pompeji, 79 n. Chr.: Gleißende Sonne brennt auf den Sandboden der Arena. Ein muskelbepackter Römer mit Helm und Dreizack tritt hervor, das Visier seines Helms verbirgt sein Gesicht. Ihm gegenüber steht ein weiterer Gladiator, oder besser gesagt: der Besucher selbst, virtuell in die Rolle eines Kämpfers versetzt. Aus den Rängen brandet tosender Applaus. Metall kreischt auf Metall, als die Klingen kreuzen. Der kurze VR-Film fährt dabei alle typischen Arena-Klischees auf: von der stimmungsvoll staubigen Luft bis zum frenetischen Jubel des Publikums ist alles dabei, was man aus Hollywoods Sandalen-Epen kennt.
Kaum ist der erste Gegner bezwungen, rasselt ein Fallgatter. Unter Gebrüll stürmt ein Tiger in die Arena. Das Raubtier faucht, wirbelt Staub auf, das Publikum johlt ekstatisch, auch dieses Bild kennt man aus unzähligen Monumentalfilmen. Doch damit nicht genug: Wenig später flutet plötzlich Wasser herein. Die Arena verwandelt sich in ein blutiges Bassin, in dem sich Galeeren für eine dramatische Naumachie (eine nachgestellte Seeschlacht) gegenüberstehen.
Schließlich erzittert der Boden, eine grollende Vorahnung des nahenden Unheils. Die jubelnden Ränge verstummen abrupt. Als sich der Rauch lichtet, ist die Zuschauertribüne wie leergefegt. In unheimlicher Stille erhebt sich am Horizont der Vesuv; feine Asche beginnt vom Himmel zu rieseln. Der Besucher steht allein im Zentrum der Geisterarena, umgeben von gespenstischem Zwielicht, während die Katastrophe ihren Lauf nimmt.
Dieser VR-Film in der Ausstellung „Pompeji – Leben auf dem Vulkan“ hat es in sich: Sie ist kein tatsächliches historisches Ereignis, sondern das Ergebnis modernster XR-Technologie. Mit Virtual-Reality-Brille taucht man mitten in ein römisches Action-Spektakel ein. Das digitale Erlebnis überwältigt die Sinne, doch was bleibt darüber hinaus? Schon hier deutet sich das zentrale Spannungsfeld der Ausstellung an: Zwischen packender Unterhaltung und seriöser Geschichtsvermittlung changiert sie ständig. Die VR-Gladiatorenarena setzt ganz auf Inszenierung und Dramaturgie, getreu dem Motto des alten Rom „Brot und Spiele“. Aber erfüllt sie auch einen Bildungsanspruch, oder verkommt die Immersion zum Selbstzweck?

Rundgang durch die Stationen der Ausstellung
Die Ausstellung gliedert sich in mehrere Stationen, die einen regelrechten Erlebnis-Parcours bilden. Zunächst betritt man eine klassische Ausstellungszone, die fast konventionell mit Texttafeln, Fotos und Repliken arbeitet. Auf leuchtenden Infowänden erfährt man die Grundzüge der Stadtgeschichte: den Ursprung und Aufstieg Pompejis in der fruchtbaren Vulkanlandschaft Kampaniens, die römische Kolonisierung im 1. Jh. v. Chr., das blühende Handelsleben am Golf von Neapel. Man liest von täglichen Routinen und vom „Leben im Schatten des Vesuv“, bekommt Stadtpläne und historische Fotos präsentiert.


Fotos: Marc Kukawka, 2025.
Vereinzelte Exponate, allesamt Nachbildungen antiker Funde, lockern die Textlast auf. So steht da etwa ein nachgebauter römischer Haushaltsschrein, dort ein rekonstruiertes Mosaik aus der Villa der Mysterien. Natürlich fehlen die berühmten Hohlraum-Gipsabgüsse der Opfer nicht: In schummeriger Beleuchtung hockt eine versteinert wirkende Gestalt am Boden, die Knie angezogen, das Gesicht angsterfüllt in den Händen vergraben. Das Original dieser Körperform mag im Archäologischen Museum Neapel liegen, hier in Oberhausen vermittelt die Kopie zumindest eine Ahnung der menschlichen Tragödie von Pompeji. Auffällig ist jedoch, dass Quellenkritik oder genaue Herkunftsangaben zu den gezeigten Objekten kaum eine Rolle spielen. Wo ein Museum auf lückenlose Beschriftung und Kontext pochen würde, begnügt man sich in dieser privat produzierten Schau oft mit oberflächlichen Erläuterungen.
Pathos im 360°-Panorama
Nach der Einstimmung folgt ein erster Höhepunkt: ein 360°-Panorama, das in einem großen Projektraum den Untergang Pompejis audiovisuell erfahrbar machen möchte. Die Besucher nehmen auf würfelförmigen Sitzhockern Platz, umgeben von raumhohen (acht Meter!) Projektionswänden. Zunächst bietet sich ein idyllischer Anblick: Pompejanischer Säulenhof mit farbenprächtigen Fresken ziehen an den Wänden vorbei, im Hintergrund ragt der Vesuv in friedlicher Majestät. Ein eigens komponierter orchestraler Soundtrack untermalt die Szene dramatisch. Sogar zeitgenössische Quellen fließen ein: An einer Stelle hört man eine Stimme auf Latein, es sind die Worte von Plinius dem Jüngeren, der einst den Ausbruch in einem Brief an Tacitus beschrieb. Diese originalen Beschreibungen einzubauen, ist ein lobenswerter Ansatz, der Authentizität suggeriert. Doch die Ruhe trügt, plötzlich erschüttert ein grollender Knall die Idylle. Die Projektionen wechseln in rasender Abfolge: Flammen lodern, Aschewolken verdunkeln den Himmel, Blitze zucken über den Wänden.



Fotos: Marc Kukawka, 2025.
Diese künstlerische Überhöhung, ein Flammeninferno, das an Höllendarstellungen erinnern, verfehlt ihre Wirkung nicht: Sie erzeugt Gänsehaut und beklemmendes Pathos. Der Vulkanausbruch wird zum immersiven Theater, das alle Register zieht. Historische Fakten treten in den Hintergrund, während das Publikum sinnlich überwältigt wird. Spätestens an diesem Punkt kippt die Inszenierung ins Format eines Katastrophenfilms: eindrucksvoll, aber weniger wissenschaftlich. Die Produzenten selbst beschreiben die Schau als Mischung aus Geschichte und Unterhaltung, mit dem Anspruch, auch Schulklassen und Fachpublikum tieferes Verständnis des römischen Alltags zu vermitteln. Genau daran lässt sie sich messen: Die emotionale Wucht erfüllt zweifellos den Unterhaltungsaspekt, doch der Bildungsanspruch bleibt im Vergleich eher vage. Provenienzangaben, Quellenkontexte oder weiterführende Erläuterungen treten hinter das Spektakel zurück. Damit eröffnet sich ein Spannungsfeld, das für das Publikum durchaus reizvoll sein kann, zugleich aber Fragen nach den Grenzen des Edutainment aufwirft.
Nach dem filmischen Inferno geht es weiter ins VR-Kino, das als zweite große Station der Schau konzipiert ist. Hier nimmt man in Reihen von Stühlen Platz, setzt Headset und Kopfhörer auf und erlebt den eingangs beschriebenen, etwa fünfminütige Film.

Spielerische Zwischentöne: Selfie- und Graffiti-Station
Nach so viel digitalem Donnern öffnet sich der Parcours zu eher spielerischen Stationen. Eine Foto-Installation lädt dazu ein, das eigene Gesicht fotografieren zu lassen, das anschließend digital auf die Körper pompejanischer Figuren montiert wird – Patrizier, Gladiatorin, Senatorin. Ein kurzer Moment römischer „Verwandlung“, der vor allem Social-Media-tauglich gedacht ist. Daneben findet sich eine Graffiti-Station, an der Besucher ihre eigenen Zeichen und Kritzeleien hinterlassen können, als Anspielung auf die berühmten Wandinschriften, die in Pompeji in großer Zahl erhalten sind. Ein durchaus netter Versuch, den Bezug zwischen Antike und Gegenwart spielerisch herzustellen.

Virtuelle Architektur: Die Villa dei Misteri
Der Rundgang endet in der Villa dei Misteri. Mit VR-Brille kann man hier durch eine rekonstruierte digitale Villa schreiten. Anders als im VR-Kino laufen die Besucherinnen und Besucher tatsächlich durch den Raum, wenngleich stets im Kreis, während das System neue Zimmer einblendet. Um Kollisionen zu vermeiden, erscheinen andere Teilnehmende als schwebende Marmorbüsten, ein surrealer, fast ironischer Anblick, der die Illusion ungewollt bricht.


Fotos: Marc Kukawka, 2025.
Inhaltlich überzeugt die Villa vor allem durch ihre atmosphärische Ausstattung, Fresken und Atrien in digitaler Pracht. Didaktisch bleibt sie jedoch zurückhaltend: Die Erklärungen sind spärlich und nach ein paar Minuten Erkunden wird man schon wieder in den nächsten Raum gescheucht, und so wirkt die Station eher wie eine ästhetische Demonstration der Technik als eine vertiefende Auseinandersetzung mit den Befunden.
Merchandising und Eventcharakter
Wie bei vielen privatwirtschaftlich konzipierten Formaten führt der Ausgang durch einen großzügig bestückten Merchandise-Bereich. Das macht den Eventcharakter der Schau sichtbar: ‚Pompeji – Leben auf dem Vulkan‘ tritt deutlich auch als Produkt auf, dessen Wirtschaftlichkeit über Ticketing und Verkauf läuft. Das ist nicht per se problematisch, alternative Finanzierungswege sind legitime Antworten auf schrumpfende öffentliche Budgets. Entscheidend ist jedoch, welche Rolle der Veranstalter selbst der Ausstellung zuschreibt: Wenn Bildung ausdrücklich Teil des Anspruchs ist, sollte sich das auch in konkreten, leicht zugänglichen Angeboten zeigen, etwa in Provenienzhinweisen zu zentralen Exponaten, kurzen Quellenkästen und einem klaren Angebot für Schulgruppen. Fehlen diese, bleibt die Schau ein starkes Erlebnisformat mit begrenzter Vermittlungstiefe.

Zwischen Unterhaltung und historischer Bildung
Der Ausstellung gelingt es zweifellos, ein breites Publikum zu fesseln. Genau das gehört auch zu ihrem offiziellen Anspruch: Laut FAQ wollen die Produzenten mit immersiven Projektionen, Virtual Reality, einer Metaverse-Erfahrung und echten Artefakten „einen fesselnden und lehrreichen Besuch“ bieten. Das Erste löst die Schau zweifellos ein: sie überwältigt, begeistert, zieht in ihren Bann. Beim Zweiten bleiben Zweifel: Der lehrreiche Aspekt reduziert sich meist auf oberflächliche Erläuterungen, während Fakten und Kontexte hinter die Dramaturgie zurücktreten. Immersion wirkt dabei oft als Selbstzweck, sie soll in erster Linie überwältigen, nicht erklären.
Fachleute betonen, dass virtuelle Zeitreisen nur dann bildungswirksam sind, wenn ihre Künstlichkeit sichtbar bleibt. Eine VR-Inszenierung, die sich als Realität präsentiert, verführt dazu, Vergangenheit und Gegenwart zu vermischen. Die Ausstellung balanciert hier auf einem schmalen Grat: Sie erzeugt Empathie und Affekt, reißt die Besucher mit, doch schafft sie auch Raum für Reflexion? Wie in einem Actionfilm überrollt das Geschehen, und hinterher bleibt die Frage, was tatsächlich gelernt wurde. Im besten Fall weckt der Nervenkitzel Interesse an Pompeji, im schlechtesten bleibt er bloßer Nervenkitzel.
Die Spannung zwischen Edutainment und Bildung zieht sich durch die gesamte Schau. Einerseits zeigt das Konzept, wie zeitgemäße Vermittlung aussehen kann: multimedial, interaktiv, sinnlich. Andererseits drängt sich der Eindruck auf, dass historische Erkenntnis hier oft nur Beiwerk ist, um ein kommerzielles Erlebnis zu legitimieren. So stellt sich die Frage: Wie viel Unterhaltung verträgt Geschichtsvermittlung, und wann kippt Emotionalisierung in Effekthascherei?
Analyse und Fazit
Am Ende des Parcours durch die letzten Tage Pompejis bleibt ein ambivalenter Eindruck. Einerseits gelingt es, Geschichte lebendig werden zu lassen: Die Besucher werden emotional angesprochen, mit allen Sinnen eingebunden und regelrecht in die Vergangenheit katapultiert. Langeweile kommt nicht auf, viele werden den Besuch als eindrucksvolles Abenteuer erinnern. Gerade für ein junges Publikum oder Menschen, die sonst selten Museen besuchen, können solche Formate tatsächlich Türen öffnen. Ein Gefühl für den Untergang Pompejis: Schrecken, Staunen, Mitleid wird vermittelt, das Lehrbuchwissen so kaum auslösen könnte.
Andererseits zeigt die Schau deutliche Schwächen, sobald man sie nicht als reine Unterhaltung bewertet, sondern den wissenschaftlichen Anspruch prüft, den sie durch ihr Thema erhebt. Das Kernproblem ist dabei weniger die rudimentäre historische Kontextualisierung an sich, sondern die Gefahr, dass die Immersion die Besucher in die Irre führt. Die Ausstellung versäumt es, transparent zu machen, wo belegbare Tatsachen enden und die künstlerische Fantasie beginnt. Fragen danach, auf welchen Quellen unser Wissen über Pompeji überhaupt beruht, werden nicht gestellt. Statt die Illusion bewusst zu brechen und zum Nachdenken anzuregen, verlässt man sich auf den Wow-Effekt der Technik. So entsteht die problematische Situation, dass sich die Ausstellung mit der Autorität der Wissenschaft schmückt, um glaubwürdiger zu wirken, ohne jedoch deren grundlegende Anforderung an Transparenz und Quellenkritik zu erfüllen.
Inhaltlich bewegt sich „Leben auf dem Vulkan“ zudem auf bekannten Pfaden. Gladiatorenkämpfe, Vulkanausbruch, dramatisches Pathos; Pompeji erscheint wie eine Bühne fürs populäre Kopfkino. Das Publikum bekommt vor allem ikonische Bilder, die es ohnehin erwartet. Hier zeigt sich der Unterschied zur klassischen Museumsarbeit: Dort würde man eher Klischees hinterfragen und Unsicherheiten thematisieren.
Hinzu kommt der Edutainment-Charakter. Wie bei ähnlichen Wanderausstellungen, etwa zu Tutanchamun oder Titanic steht die Vermarktung im Vordergrund. Das Erlebnis soll „gefällig“ sein, die Besucherzahlen hoch. Und tatsächlich sind die meisten Stimmen begeistert; nur vereinzelt wird angemerkt, frühere Ausstellungen desselben Veranstalters seien inhaltlich gehaltvoller gewesen. Hinter der glänzenden Oberfläche könnte die substanzielle Bildung also zu kurz kommen.
Man muss an dieser Stelle jedoch fairerweise differenzieren: Warum sollte ein privatwirtschaftlicher Anbieter denselben Maßstäben unterliegen wie ein öffentlich gefördertes Museum? Ein Investor kann frei entscheiden, welches Produkt er auf dem Markt anbietet. Solange keine öffentlichen Gelder fließen, ist der Vorwurf der mangelnden „Seriosität“ nur bedingt haltbar. Der Begriff selbst muss präzisiert werden: Seriosität im musealen Kontext bedeutet wissenschaftliche Gründlichkeit und ein pädagogischer Auftrag. Im Kontext eines kommerziellen Produkts verschiebt sich die Bedeutung hin zur Frage: Ist das Angebot transparent? Das eigentliche Problem ist also nicht, dass hier „Geschichte light“ geboten wird, sondern dass die immersive Wucht der Inszenierung eine Authentizität und Tiefe suggeriert, die das Produkt inhaltlich nicht einlöst. Es ist ein Entertainment-Angebot, das sich den Anschein eines musealen Erlebnisses gibt.
„Pompeji – Leben auf dem Vulkan“ steht exemplarisch für die Chancen und Risiken von XR in der Kulturvermittlung. Sie zeigt, wie VR-Geschichte intensiv und unvergesslich erfahrbar macht. Zugleich wird deutlich: Immersion allein reicht nicht. Es braucht einen kritischen Rahmen, fundierte Nachbereitung und die Bereitschaft, Illusionen auch zu brechen. Als Entertainment funktioniert die Schau hervorragend, als historische Vermittlung bleibt sie oberflächlich. Weniger Bombast, mehr Reflexion, das wäre der Gewinn.
In der modernen Ausstellung gerät Pompeji so zum Sinnbild unseres Umgangs mit Geschichte: als packende Erfahrung, die uns emotional trifft, die wir aber rasch wieder abschütteln können, sobald wir die VR-Brille abnehmen. Die eigentliche Herausforderung liegt daher außerhalb der virtuellen Arena: das Gesehene einzuordnen, die Faszination zu vertiefen und Geschichte als komplexes Geflecht von Fakten, Quellen und Schicksalen zu begreifen. Erst dann entfalten immersive Medien mehr als kurzfristige Wirkung.
Ausstellung „Die letzten Tage von Pompeji – Die immersive Ausstellung“
Oberhausen (11. April bis 14. September 2025; die Rezension geht auf den Besuch dort zurück); Frankfurt (12. September 2025 bis 11. Januar 2026)
Kuratierung: Míriam Huéscar (Madrid),
Produktion: MAD – Madrid Artes Digitales und Alegria Exhibition GmbH, München
Veranstalter in Deutschland die FKP Scorpio Entertainment GmbH, Hamburg.


















