Dreyfus – der Name ist zum Synonym geworden für den Justizskandal, der am Ende des 19. Jahrhundert Frankreich spaltete. Die Intrige um den jüdischen Offizier, der aufgrund antisemitistischer Ressentiments verurteilt wurde, wurde zum ersten (internationalen) Medienereignis mit zeitloser Bedeutung. Darüber ist die Person, die den Namen trug, abhandengekommen. Sein persönliches Drama wurde bereits zu Lebzeiten Dreyfus‘ zugunsten der Staatsaffäre in den Hintergrund gedrängt.
Die Ausstellung „Alfred Dreyfus – Wahrheit und Gerechtigkeit“ im Musée d’art et d’histoire du Judaisme (mahJ) stellt die Frage, wer der Mann war, dessen Leben so aus den Fugen geriet und rückt ihn ins Zentrum der „Affäre mit Dreyfus“.

„Quand on racontera mon histoire, elle paraîtra invraisemblable” (Wenn man meine Geschichte erzählen wird, wird sie unglaublich erscheinen.) – Alfred Dreyfus
Die Affäre, die Frankreich entlarvte
Alfred Dreyfus wurde 1859 im elsässischen Mulhouse geboren als es noch französisch war. Mit der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg 1871 fiel es an das Deutsche Reich, doch Vater Dreyfus nahm für die Familie stolz die französische Staatsbürgerschaft an.
Der junge Alfred wird als „glühender Patriot“ beschrieben, der es als erster Jude bis in den Generalstab schaffen sollte. Eine erfolgreiche Militärlaufbahn wäre ihm wohl weiter beschieden gewesen, wäre er nicht 1894 des Hochverrats und der Spionage für das Deutsche Reich beschuldigt, vor einem Militärgericht angeklagt, zu Straflager verurteilt und deportiert worden. Trotz früher Hinweise auf den wahren Täter wird Dreyfus erst 1899 begnadigt und 1906 rehabilitiert. Die Rückkehr in sein Leben vor der Affäre war ihm trotz allem nicht möglich.
Nicht nur dient der Fall als Beleg eines in weiten Teilen der französischen Gesellschaft tief verankerten Antisemitismus. Vielmehr war er ausschlaggebende Ursache für die laizistische Trennung von Kirche – respektive Religion – und Staat sowie frühes Medienereignis einer informierten Öffentlichkeit des neuen Pressezeitalters.

Aufbau und Struktur
Annähernd 250 Exponate versammelt diese Schau auf drei Etagen, darunter Archivdokumente, Soundstationen, Fotografien, Filmausschnitte und etwa sechzig Kunstwerke u.a. von Jacques-Émile Blanche, Gustave Caillebotte, Edgar Degas, Émile Gallé, und Camille Pissarro. Mit Unterstützung durch das Musée d’Orsay stellt das mahJ eine Schau zusammen, die sich auf die hauseigene Sammlung stützt, sowie auf Leihgaben vom Nationalarchiv und der Nationalbibliothek, dem Militärmuseum, dem Stadtmuseum Musée du Carnavalet, der École de Nancy und den Museen Maison Zola-Musée Dreyfus in Medan sowie auf Privatsammlungen.
Am Beginn der Ausstellung steht groß aufgezogen die Karikatur Félix Vallottons, die einen Vater (Dreyfus) beim Geschichtenerzählen mit seinen Kindern zeigt sowie ein erstes Zitat von Dreyfus (s.o.). Von hier entfaltet sich diese „unglaubliche Geschichte“ in chronologischer Abfolge und führt durch die Stationen eines Lebens, das die dramatische Wendung nahm. Bevor die Ausstellung die Etappen des Skandals, den unermüdlichen Kampf um Gerechtigkeit und die langen Nachwehen abhandelt, wird der Mensch dahinter gezeigt: der Sohn, Schüler, Ehemann, zufriedene Vater und stolzer Militär.



Variierende Wandfarben kennzeichnen die verschiedenen Abschnitte und werden durch Raumtexte eingeleitet, die direkt mit der Affäre in Verbindung stehen. Zwischendurch wird auf großzügigem Raum durch zwei „Einschübe“ ein Bild von der widersprüchlichen Zeit vermittelt, in der Frankreich einerseits Hort für Europas Juden war, das ihnen seit 1791 die Bürgerrechte zuerkannte. Anderseits wird die Dritte Republik als instabil gezeichnet, die drohte infolge einer Reihe von anarchistischen Anschläge ins Chaos zu stürzen und das Aufkommen von Nationalismus, Populismus, Chauvinismus und Antisemitismus sah. Eine eher selten gezeichnete Seite der sogenannten „Belle Époque“, die über Gemälde, Stiche, Plakate und Zeitungen und Ähnliches anschaulich gemacht wird.

Für die zentralen Stationen, „Verhaftung und Prozess“ von Dreyfus und „Fall Zola“, bleiben in der Raumfolge lediglich die schmalen „Zwickel“ der Treppen. Auf diese Weise zwar an den Rand gedrängt, befinden sich beide Sektionen direkt untereinander. Diese räumliche Beziehung macht sinnhaft, was zeitgenössisch kaum zu übersehen war, heute aber erklärt werden muss: Die Parallelität der Fälle.
Der „Fall Zola“
Kein „Dreyfusard“ der ersten Stunde, war Émile Zola dennoch zu einem der prominentesten Verteidiger geworden. Mit seiner öffentlichen Kritik an Frankreichs Militär und Justiz geriet er seinerzeit selbst ins Visier und fand sich bereits im Monat nach Veröffentlichung seines Briefs „J’accuse…!“ („Ich klage an!“) 1898 in einem Schauprozess wieder. Der verhängten Gefängnisstrafe entzog sich Zola rechtzeitig durch Exil nach England, wo er annährend ein Jahr verblieb.
Bis heute hat Zola unsere Vorstellung von journalistischer Integrität und des sich streitbar einmischenden Intellektuellen geprägt. Mit seinem Mut, seiner moralischen Haltung und den Folgen für ihn, fand jedoch auch die Verschiebung innerhalb der Affäre Dreyfus statt. Es ging nicht mehr allein um ein individuelles Drama, sondern um Pressefreiheit und gesellschaftliche Verantwortung, um Werte wie Gerechtigkeit und Wahrheit. Der Protagonist Dreyfus geriet in eine Art Konkurrenz zum Schriftsteller, während sein Fall dadurch erst die gesamtgesellschaftliche und überzeitliche Bedeutung erhielt.
Ungleichgewicht: Zeugnisse Dreyfus und des internationalen Medienechos
Die Ausstellung der Biografie einer Person, die nicht so sehr wegen ihrer Taten, sondern wegen des an ihr verübten Geschehens zur historischen Figur geworden ist, birgt eine Gefahr: Sie beginnt nicht selten mit der Geburt und frühen Kindheit. Damit steht zu befürchten, wenig Interessantes erzählen zu können. Alfred Dreyfus ist da ein Glücksfall, schon, weil er eine singuläre Figur in der frühen jüdischen Emanzipation war. Mit seinen Briefen und Tagebüchern hat Dreyfus selbst für jene eloquenten Einblicke gesorgt, mit denen sich sein Leben vor, aber gerade auch die Zeit der Affäre auf seine Person zurückführen ließe. Stellenweise funktioniert das auch gut, z.B. wenn der Brief an seine Frau für eine Soundstation eingelesen wird. Auch werden an den Wänden immer wieder kurze Zitate aufgeführt. Daher ist es unverständlich, dass im Gesamten diesen existierenden Zeugnissen nicht mehr Gewicht verliehen wird. Dreyfus‘ eigene Ausführungen tauchen nur sporadisch auf.

Das zeigt sich insbesondere in der kleinen Sektion zu seinen Jahren im höllischen Straflager in Übersee, passend in Meeresblau hinterlegt und mit der Projektion von Wellenbewegungen. Das verleiht der Sektion ausgerechnet jene friedliche Atmosphäre, die er keinesfalls erlebte. Sein schmales Tagebuch, das Alfred Dreyfus zwischen 1895 und 1896 führte, wird aufgeklappt in einer Vitrine neben seinen Cahiers de travail d‘ Île du Diable präsentiert. Auf diese Art erfahren wir jedoch zu wenig, was der Gepeinigte selbst festzuhalten wusste. Hier hätte schon ein nebenstehendes Transkript geholfen. Insgesamt wünschte ich mir endlich eine innovativere Präsentationsform von Büchern, die mit den medialen Mitteln von heute möglich ist.
Den Anspruch der Ausstellung, Dreyfus ins Zentrum zu rücken, um das in der Affäre geschaffene Bild des passiven Opfers zu korrigieren, geht so nut stellenweise auf. In der Flut hervorragender Exponate, die diese „ersten Momente eines europäischen Gewissens“ (Bertrand Tillier) produziert haben – Petitionen, Zeitschriftenbeiträge, Illustrationen, Karikaturen, Zeichnungen, Plakaten, Postkarten etc. – wird sich einmal mehr zu sehr an den über Dreyfus produzierten Dingen abgearbeitet, die die feinen Herren im Frack in ihren bourgeoisen Stuben geschrieben und gezeichnet haben.
Fazit
Seit 2021 klärt das Musée Dreyfus im Annex des Musée Maison Émile Zola ganzjährig über die folgenreiche Affäre auf. Doch vor dem Hintergrund eines weltweit erstarkenden Antisemitismus und der sich in rechten Kreisen Frankreichs hartnäckig haltenden Schuldvermutung gegen Dreyfus, kehrt das mahJ nach zwanzig Jahren erneut zu dem Thema zurück, das ein Schlüsselmoment in der jüngeren französischen Geschichte darstellt.
Die Ausstellung führt lückenlos durch die Station des Skandals, und schafft es immer wieder auf das Leben des Justizopfers Schlaglichter zu werfen und verortet gut in die Epoche. Dabei bildet der Ausblick auf das Schicksal seiner Enkelin, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde, den traurigen Schlusspunkt einer tragischen Familiengeschichte.

Die Ausstellung schließt mit einem Bild, keinem von Dreyfus, sondern dem von Heinrich George in der Rolle des großen Literaten Émile Zola im deutschen Spielfilm „Dreyfus“ von 1930. In den Ausschnitten aus Richard Oswalds Film werden Szenen des Prozesses gegen Zola (nicht jene gegen Dreyfus) gezeigt. Den Abschluss macht der packende, mit pathetischem Ernst gespielte Monolog Zolas über die Pflicht für Gerechtigkeit und Wahrheit zu kämpfen. „Das individuelle Unglück kann uns erschüttern, aber das öffentliche Interesse, die Steigerung zum Kampf für das Recht aller, ist der wirkliche Fall Dreyfus“, so die zeitgenössische Filmkritik im Abendblatt des Vorwärts. Der Fall Dreyfus war schon zu seinen Lebezeiten nicht mehr allein seine Geschichte, sondern ist unsere, auch heute noch.
Und so gelingt der Ausstellung gerade mit dem Abschluss in der Rede Zolas/ Georges ein Kommentar auf unsere Zeit, in der Wahrheit und Gerechtigkeit unter Beschuss sind. „Mit der Wahrheit aus der Finsternis der Lüge“ – eine sehr aktuelle Botschaft.
Musée d’art et d’histoire du Judaisme, Paris, Ausstellung „Alfred Dreyfus. Vérité et justice“ (13. März bis 31. August 2025)
Kuratierung: Isabelle Cahn, Philippe Priol
Gestaltung: Julia Dessirier, F&D



















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