„Neanderthalerinnen nahmen keine aktiven Rollen bei der Jagd ein, sondern waren für das Sammeln zuständig.“
„Alle Neanderthalerinnen waren Mütter und kümmerten sich alleine um die Erziehung der Kinder.“
„Neanderthalerinnen wurden nicht in bedeutende Gruppenentscheidungen oder kulturelle Praktiken eingebunden.“
Mit diesen und anderen gängigen Stereotypen über Neanderthalerinnen räumt die Ausstellung „Stereotypes Neanderthalerin“ in Mettmann auf. Sie beleuchtet, wie diese Stereotype nicht nur das Bild der Neanderthalerin verzerren, sondern die Wahrnehmung der gesamten neanderthalerischen Gesellschaft beeinflussen.

Auch in unserer heutigen Gesellschaft dürfen wir die Auswirkungen dieser Stereotype nicht unterschätzen. Die Vorstellung, dass Frauen in prähistorischen Zeiten nur in passiven, häuslichen oder fürsorglichen Rollen agierten, hat über Jahrhunderte hinweg das Bild von Frauen als weniger fähig in sozialen, intellektuellen oder kreativen Bereichen verstärkt. Diese veralteten Denkmuster tragen auch heute noch zu einer eingeschränkten Wahrnehmung von Frauen in vielen Lebensbereichen bei – ein Problem, das weit über die prähistorische Zeit hinausreicht.
Die „weltweit erste Ausstellung zur Neanderthalerin“ verfolgt ein ambitioniertes Ziel: sie möchte diese festgefahrenen Stereotype entlarven und die Besuchenden dazu anzuregen, gängige Annahmen zu hinterfragen. Durch die Präsentation neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und einer kritischen Auseinandersetzung mit altbewährten Vorstellungen wird eindrucksvoll gezeigt, wie sehr jene vereinfachten Bilder die Forschung und das gesellschaftliche Verständnis geprägt haben. So trägt die Ausstellung nicht nur zu einer differenzierteren Sicht auf die Rolle der Neanderthalerin bei, sondern hilft auch, stereotype Denkmuster in der heutigen Gesellschaft zu überwinden.

Neue Einsichten und überraschende Entdeckungen
Zu Beginn betritt man einen abgedunkelten Raum und steht vor einem großen Bildschirm. Hier ahmen Neanderthaler*innen die Körperbewegungen des Besuchenden nach – ein interaktives Highlight, das zum Mitmachen anregt und eine überraschende Nähe zu unseren entfernten Vorfahren herstellt.
Schon beim Betreten der Ausstellung geht’s direkt los: Man zieht eine „Charakterkarte“ und wird einer von vier Neandertalerinnen zugeordnet. Auf einer Weltkarte ist nachzuvollziehen, wann und wo die Neanderthalerin lebte und welches Klima damals herrschte – alles per farbiger Zuordnung. Mithilfe der an der Kasse erhaltenen Kopfhörer begleitet man diese Neanderthalerin nun auf einer spannenden Audiotour, geschrieben von der Archäologin und Bestsellerautorin Rebecca Wragg Sykes, durch die Ausstellung. Es wird kein trockener Faktenmarathon, sondern ein lebendiger Einblick in das Leben einer anderen Zeit – ein ganz persönliches Abenteuer in die Vergangenheit. Am Ende der Ausstellung kann man die Charakterkarte stempeln und als Souvenir mitnehmen.



Aufgeteilt in mehrere Stationen werden mithilfe des Audioangebots, Hands-on Aktivitäten sowie Texten und Objekten unterschiedliche Stereotype genannt und hinterfragt. „Alle Neanderthalerinnen waren Mütter“ lautet das erste Vorurteil, das mithilfe des „Stereotype Breaker“ aufgebrochen wird. Dabei handelt es sich um eine Drehscheibe, auf deren Vorderseite sich ein Stereotyp und dahinter die „Auflösung“ befindet. Bei dieser ersten Station geht es um die Themengebiete Schwangerschaft, Geburt und Menstruation.
Dies wird mithilfe einer Rekonstruktion eines Neanderthalerinnen-Beckens und einer Puppe mit Fellbekleidung veranschaulicht. Gleichzeitig wird die „unsichtbare Hälfte“ der Geschichte thematisiert: die Frauen, deren Rolle oft unter den Tisch fällt und die deshalb kaum erforscht wird. Diese Station zeigt auf, wie wenig wir tatsächlich über das Leben der Neanderthalerinnen wissen und wie wichtig es ist, bestehende Annahmen zu hinterfragen, um ein umfassenderes Bild ihrer Lebensrealitäten zu erhalten.

Bei der Station „Kleine Gruppe mit großer Vielfalt“ geht’s ans Eingemachte: Wie lebten und arbeiteten die Neanderthaler*innen zusammen und welche Rolle spielte die Verwandtschaft? Die gängige Vorstellung, dass immer eine „fähige Person das Sagen hatte“, wird hier kräftig aufgemischt. War wirklich eine Person für alle Entscheidungen verantwortlich oder ist diese Vorstellung eine Vereinfachung des damaligen Lebens?
Durch die Analyse von Bestattungspraktiken und archäologischen Funden wird schnell deutlich: klare Hierarchien? Fehlanzeige! Stattdessen war das Leben ein komplexes Zusammenspiel von Individuen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Rollen. Auch werden Fragen aufgeworfen, wie beispielsweise „Können wir Spielzeugen Geschlechtern zuordnen?“ Diese Fragen regen dazu an, über die Konstruktion von Geschlechterrollen und ihre Bedeutung in der Vergangenheit sowie in der Gegenwart nachzudenken.

Im Schein des Feuers
Mit einer modern gestalteten „Feuerstelle“ samt Knistern und Lichteffekten wird ein Ort des Austauschs in der Mitte der Ausstellung geschaffen. Nicht nur als lebenswichtige Quelle für Wärme und Nahrung, sondern auch als sozialer Treffpunkt für Neanderthaler*innen spielte die Feuerstelle eine zentrale Rolle. Besonders größeren Gruppen von Besuchenden wird die Möglichkeit gegeben, in den Dialog zu treten.
Mit Fragen wie „Welchen Beitrag leistet deine Neanderthalerin in ihrer Gruppe?“ oder „Was war ein besonderes Ereignis im Leben deiner Neanderthalerin?“ werden Diskussionen angeregt und auf die Audiotour verwiesen. Solche Fragen öffnen die Tür zu einer persönlicheren Auseinandersetzung mit den Menschen von damals, zu einem Blick auf ihre alltäglichen Herausforderungen und bedeutungsvollsten Erlebnisse.

„Leben am Limit“ – was tun, wenn das Leben auf dem Spiel steht? Die Neanderthalerinnen hatten auch ihre eigenen Herausforderungen: von chronischen Krankheiten über die Pflege von Alten und Kranken bis hin zum Tod und der Bestattung. Anhand von Objekten, wie beispielsweise Heilpflanzen und der Schädelrekonstruktion einer alten Person, sehen wir, dass Neanderthalerinnen keineswegs nur hart im Nehmen waren, sondern auch fürsorgliche Pflegepraktiken hatten, an denen alle Mitglieder der Gemeinschaft teilhatten.

Der Alltag der Neanderthaler*innen war alles andere als eintönig! Bei der letzten Station geht’s um mehr als nur Überleben – es geht um Körper, Geschlecht, Freizeit und Kultur. Ein Beispiel dafür ist Schmuck: Wer trug ihn, wer stellte ihn her, und vor allem, was bedeutete er? War Schmuck wirklich nur für die Frauen oder steckte da mehr dahinter?
Beim „Stereotype Generator“ können Besuchende aus verschiedenen Rollen und Adjektiven Kombinationen bilden und so die gängigen Vorstellungen von Geschlechterrollen hinterfragen. Auch der „Stereotype Breaker“ haut nochmal kräftig auf den Kopf: „Neanderthaler bewältigten die wichtigsten Aufgaben.“ Die Aufgaben waren eben nicht nur „Männerarbeit“ – Neandertaler*innen, egal ob Mann oder Frau, hatten alle ihre Aufgaben und trugen ihren Teil bei.

Erlebte Geschichte: Interaktive Höhepunkte und inklusive Angebote für alle Besuchenden
Besonders gelungen ist die Mischung aus Interaktivität, Inklusion und sozialem Erlebnis. Mehrere Spiele und Hands-On-Stationen laden die Besuchenden ein, in die Welt der Neanderthalerinnen einzutauchen. Diese interaktiven Elemente sind nicht nur lehrreich, sondern machen die Ausstellung zu einem spielerischen Abenteuer, das neugierig macht und zum Mitmachen anregt. Besonders auffällig ist auch der „Mammut-Pfad“, der sich wie ein roter Faden durch die gesamte Ausstellung zieht. Dieser ist besonders für Kinder und Familien geeignet, da er auf unterhaltsame Weise spannende Informationen vermittelt und die jungen Entdeckerinnen auf eine Reise durch die prähistorische Welt mitnimmt.

Inklusion wird hier ebenfalls großgeschrieben. Das Audio-Angebot sorgt für ein zusätzliches, immersives Erlebnis – es erzählt Geschichten aus der Perspektive der Neanderthalerinnen und lädt die Besuchenden dazu ein, sich emotional mit ihren Lebensrealitäten auseinanderzusetzen. Sowohl die Hands-On-Stationen als auch die Repliken können gleichzeitig als taktile Modelle genutzt werden, die es auch Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen ermöglichen, die Ausstellung auf ihre eigene Weise zu erleben.
Und dann ist da noch die Feuerstelle – ein Ort, an dem die Ausstellung über den reinen Wissenszuwachs hinausgeht und zu einem sozialen Erlebnis wird. Besonders Schulklassen und Familien kommen hier auf ihre Kosten, denn die Feuerstelle bietet den perfekten Raum für Austausch und Gespräche. So wird der Besuch nicht nur zu einer Reise in die Vergangenheit, sondern auch zu einer Gelegenheit, sich über die Themen der Ausstellung auszutauschen und neue Perspektiven zu gewinnen.
Blick zurück, Blick nach vorn
Die Ausstellung „Stereotypes Neanderthalerin“ bietet einen erfrischend kritischen Blick auf die gängigen Stereotype, die unser Bild von Neanderthaler*innen prägen. Sie stellt das Bild von passiven, fürsorglichen Frauen infrage und zeigt, wie diese Stereotype nicht nur das Verständnis der Vergangenheit verzerren, sondern auch heutige Geschlechterbilder und soziale Strukturen beeinflussen.
Trotz vieler positiver Aspekte gibt es aus meiner Sicht einige Punkte, die die Ausstellung noch weiter verbessern könnten. Ein zentraler Kritikpunkt ist der teilweise verstärkte Dualismus der Geschlechter, der in der Ausstellung mitschwingt. Obwohl viele Fragen aufgeworfen und selten definitive Aussagen gemacht werden, könnte die konsequente Unterteilung in „männlich“ und „weiblich“ die Diskussion über die Geschlechterkonzeption der Neanderthalerinnen vereinfachen. Hatten sie überhaupt eine klare Vorstellung von Geschlecht im modernen Sinne? Hier wäre mehr Raum für eine differenziertere Auseinandersetzung mit den sozialen und biologischen Rollen der Neanderthalerinnen möglich. Auch die Wahl einer eher stereotypen pinken Farbgestaltung könnte als problematisch angesehen werden, da sie die veralteten Geschlechterstereotype, die eigentlich hinterfragt werden sollen, eher verstärkt als aufbricht.

Die Ausstellung glänzt jedoch durch ihre Fähigkeit, Geschlechterrollen zu hinterfragen, wodurch die politisch und gesellschaftlich brisante Thematik der Geschlechterstereotype durch diese Ausstellung eine neue Dimension erhält. Gerade in einer Zeit, in der die Auseinandersetzung mit feministischen und inklusiven Themen immer wichtiger wird, ist es entscheidend, auch auf die historische Dimension dieser Debatten zu schauen. Die Ausstellung leistet hier einen wichtigen Beitrag, indem sie historische Vorurteile aufgreift und zum Nachdenken anregt. Hier wird die Geschichte jedenfalls nicht in Schwarz-Weiß erzählt, sondern in vielen Nuancen.
Als Sonderausstellung des „Neanderthal Museums“ ist „Stereotypes Neanderthalerin“ bis zum 31. August 2025 zu sehen. Sie ist für ein breites Publikum – besonders Familien mit Jugendlichen und Kindern – geeignet, da für jede*n etwas dabei ist. Auch das Rahmenprogramm bietet viele spannende Angebote, unter anderem Kuratorinnenführungen, Ferienworkshops und ein Escape Game.
„Stereotypes Neanderthalerin“, Neanderthal Museum Mettmann, 23.11.2024 bis 31.8.2025
Ausstellungsdesign und Grafik: Studio Quack, Köln
Mediendesign: 2av GmbH, Ulm
Wissenschaftliche Beratung: Rebecca Wragg Sykes, Marie Soressi


















