Die so ziemlich unromantischste Stadt Deutschlands, Frankfurt am Main, beherbergt das Deutsche Romantik-Museum. Und weil vor genau 250 Jahren, im September 1774 – rechtzeitig zur Leipziger Buchmesse!-, der erste deutsche Bestsellerroman erschien, geschrieben vom Sohn der Stadt, J. W. (von) Goethe, richtet es im Handschriftenstudio eine kleine Kabinettausstellung aus.
Das vermeintlich besondere Schmankerl der Ausstellung ist die über das Jahr verteilte, 12-teilige und damit monatlich wechselnde Präsentation. Darüber soll uns das gesamte Werther-Jahr nähergebracht werden, um verständlich zu machen, was den europaweiten und bis heute anhaltenden Romanerfolg bewirkt hat. So viel vorweg: Auf dem Blatt klingt das Konzept großartig.

Schlüsselwerk der deutschen Literaturgeschichte
Vom Freien Deutschen Hochstift getragen, ist das Museum dem in den 1950er Jahren komplett rekonstruiertem Goethe-Haus angehängt und erzählt auf drei Etagen umfänglich von dieser bedeutenden Epoche. Deren Beginn markiert auch in gewisser Weise Goethes Geschichte über einen unglücklich Verliebten, der an den gesellschaftlichen Beschränkungen und Normen zerbricht und schließlich Selbstmord begeht. Goethe schrieb den Roman, der ihm mit gerade 25 Jahren zu Ruhm verhelfen sollte, innerhalb weniger Wochen, inspiriert vom eigenen Herzschmerz und der Geschichte eines Bekannten.
Die Selbstmordgeschichte um den liebestollen Werther, der einer Frau nachstellt, die einem anderen versprochen ist, kratzte ordentlich an christlichen Moralvorstellungen und wurde doch in kürzester Zeit zum Sensationserfolg und in mehrere Sprachen übersetzt. Dieser Erfolg ließe sich „am ehesten aus den Zeitumständen“ erklären, weshalb mit der, Monat für Monat wechselnden Schau auch den Fragen nachgegangen werden soll, wie man sich die Welt von 1774 vorzustellen habe, worüber die Öffentlichkeit diskutierte. „Welche Stimmung herrschte unter den Intellektuellen, wen traf der eben 25jährige Frankfurter Dichter und was passierte in diesem Jahr in Europa und darüber hinaus?“
Die Pressemitteilung aus dem Eröffnungsmonat Januar klingt verheißungsvoll, verspricht sie doch, dass in den immer wieder neu bestückten fünf Vitrinen „beachtliche, unterhaltsame, oft auch kuriose Bücher, Porträts und Autographen entdeckt werden (können), die Zeugnisse eines bewegten Jahres im Ausgang des 18. Jahrhunderts sind.“
Vom Buch zur Ausstellung
Von „Kaptän Cooks Antarktis-Fahrten über Operntriumphe in Paris bis zu den Hochstapeleien einer falschen Zarin (…) von Turmfrisuren, Rokoko-Palästen, Sektierern und Erpressern, (…) findigen Physikern (…)“ will diese Kabinettausstellung den Rahmen Goethe sprengen und auch über Europa hinausblicken. In der Presseinfo heißt es dazu, dass damit das Werther-Jahr „erstmals (…) derart eingehend dokumentiert“ würde. Denn, was die Welt bewegte, bewegte Goethe und fand ihren Ausdruck im Denken, was in der Literatur kulminierte.
Das Konzept der Ausstellung basiert derweil auf der Publikation des Kurators Dr. Johannes Saltzwedel, „Werthers Welt, Das Jahr 1774 in Bildern, Büchern und Geschichten“, die er im Vorjahresherbst herausgebracht hat. Die Biografie eines Jahres hatte 2013 erfolgreich bei Florian Illies funktioniert. Der Gedanke dahinter, im Streifzug durch ein Jahr eine vergangene Welt anhand ihrer Ereignisse, Personen(netzwerke) und Gedanken zu entfalten, ist auch unserer Haltung geschuldet, alles im sich verlierenden Kontext zu betrachten. Der Zusammenhang mit dem Weltgeschehen verdichtet die Gegenwart des Romans, um uns Heutigen ein tieferes Verständnis zu gewähren.

Die vorab aufgebaute Spannung war enorm und ich begierig, das Ergebnis zu sehen. Doch schon beim Betreten der dritten Etage folgte die erste Ernüchterung: Denn was auch online als eigenständige Schau kommuniziert wird, ist vor Ort erstmal unauffindbar. Auf das, durch helle Holzpaneele vom Hauptraum abgetrennte Handschriftenstudio, weist zunächst nichts hin. Wenig hilfreich war da, dass auch, bei aller Freundlichkeit der Mitarbeiter:innen, niemand so recht zu wissen schien, wonach ich zielgenau fragte. Hier zeigt sich zweierlei: Aufgebauschte Publicity bei verpasster Einweisung des Personals.

Hat man dann das Kabinett unter der Dachschräge ausgemacht, folgt auch schon die nächste Enttäuschung: Fünf, entlang der Wand aneinander stehende Tischvitrinen, schummriges Licht, Lampen über den Vitrinen, zwei Tafeln Monatschronik im Eck. Das soll die über Kategorien und Länder blickende Ausstellung gewesen sein?

Im Monat September: Nichts passiert
Der neunte Monat war die neunte Teilpräsentation und folgte auf Kapitel mit Titeln wie „Poetische Blüten“ und „Die Endzeit ist nah“. Im September waren es „Geliehene Pistolen“. Das nimmt Bezug darauf, dass Johann Christian Kestner, der Goethes echte Lotte heiratete, in der Realität dem Vorbild für den Werther die Pistole für dessen Suizid geliehen hatte. Vor ein paar Jahren war diese Pistole tatsächlich nach aufwendiger Suche in der Schweiz ausgemacht worden und in einer Ausstellung in der Bundeskunsthalle präsentiert. Hier sehen wir sie aber nicht.


In der September-Version der Ausstellung gibt es ausschließlich Drucksachen in den fünf Tischvitrinen zu sehen. Frühdrucke des Werthers, eine Stadtkarte von Hamburg, zwei Kupferstichporträts. Das Versprechen durch „zahlreiche Porträtstiche und weitere Bildwerke die Epoche lebendig“ zu machen, nein, so geht es nicht auf. Wenn wenigstens die Bücher als Digitalisat zugänglich gemacht wären, damit man sie virtuell durchblättern könnte. Wenn es an den Wänden mehr gäbe als ein Plakat zur Ausstellung und die Chronik. Überhaupt die Chronik: Wortwörtlich dem Buch entnommen und vergrößert auf zwei Tafeln aufgezogen, nennt sie mal mehr, oft jedoch weniger interessante Ereignisse des Jahres. Dass aber ausgerechnet im September nicht die Veröffentlichung erwähnt wird, zeigt, wie wenig bei der Auswahl wiederum auf den Werther eingegangen wurde. Übrigens liegt ein Leseexemplar von Saltzwedels Publikation aus. Und in diesem direkten Vergleich zeigt sich, dass diese Ausstellungen schlicht das in den Raum getragene Buch selbst ist.

Probleme der Ausstellung
Die spärlichen Exponate verhelfen nicht dazu, den Sensationserfolg des Werthers zu verstehen. Auch, weil sie die heute eigentlich spannenden Fragen nicht berühren. Auch das Versprechen der Dichte, löst die Ausstellung nicht ein. Das wäre bei einer Kabinettausstellung ohnehin schwierig. Hier kommt noch hinzu, dass eben immer nur der aktuell präsentierte Monat zu sehen ist. Das jeden Monat theoretisch neu produzierte Wissen geht nach Ablauf des jeweiligen Monats schlicht verloren und die Informationen zu den folgenden Monaten sind noch nicht sichtbar. Man müsste schon zwölfmal wiederkommen und sich alles merken, um einen Gesamtüberblick zu gewinnen.
Im Buch lässt sich immerhin zwischen den Seiten blättern und damit Verbindungen schaffen. Dabei kann Sinn der Ausstellung jedoch nicht sein, dass man das ausliegende Leseexemplar zur Hand nehmen muss (das Buch ist im Museumsshop für ca. 38 Euro zu erwerben). Die Ausstellung muss den Mehrwert schaffen.
Die großen Anliegen dieser Ausstellung, die so wortreich beschworen werden, erfolgen am ehesten in den über das Jahr verteilten Veranstaltungen, z. B. Symposien zur Internationalen Rezeption des Werthers, oder ein Gesprächskonzert zu Liedern und Lyrik des Werthers. Hierbei wird weiterhin geklärt, was die asiatischen Rezipienten gut 120 Jahre später noch am Werther faszinierte. Auch die ein bis zwei Mal monatlich stattfindenden Theaterführungen mit der Schauspielerin Katharina Schaaf in der Verkleidung der Lotte klingt weitaus vielversprechender. Man hätte es auch bei diesen vertiefenden Veranstaltungen belassen können. Denn was Goethe und seine Zeitzeugen beschäftigte, was Gemüter erregte, in den fünf Vitrinen erfahren wir es nicht.
Fazit: Blumige Worte machen noch keine Ausstellung
Das gesamte Werther-Jahr 1774 in fünf mal zwölf Vitrinen packen, dabei nicht nur Goethe oder Europa erfassen, sondern Literatur, Philosophie, Wissenschaft usw. weltweit, um das Epochemachende zu verstehen – ein so hoch gesetztes Ziel kann eigentlich nur scheitern.
Bei aller Begeisterung für historische Ereignisse und Daten, die ich teile, fehlten mir konkrete Bezüge zum Thema. Teilweise liest sich die Chronik wie eine Jahreszusammenfassung auf Wikipedia.
Der Monat September lässt mich jedenfalls zweifeln, dass die anderen monatlichen Kapitel überzeugen. Das Konzept, wonach mit einer zwölfteiligen Präsentation eine Dichte geschaffen werden soll, die in der Überschaubarkeit einer unveränderten Kabinettausstellung nicht möglich wäre, geht auf die umgesetzte Weise nicht auf. Zu wenig überzeugen die Exponate, zu stark sind die Leerstellen. Ein kräftig ausgemaltes Konzept macht eben noch keine starke Ausstellung. Diese verführt auch nicht dazu, sich dem Buch zu widmen, sondern zwingt einen, wenn man wirklich etwas erfahren und verstehen möchte. Das ist für eine Ausstellung schon fast frech zu nennen.
Es drängt sich der Vergleich mit einem Menü auf, dessen zwölf Gänge man jeweils im Abstand von vier Wochen serviert bekommt. Genuss sieht anders aus. Hoffentlich genießt es wenigstens der Autor, dass sein Buch ein ganzes Jahr ausgestellt bleibt.
Deutsches Romantik-Museum, Handschriftenstudio (oberste Etage), 12. 1. bis 30. 12. 2024
Kurator: Johannes Saltzwedel



















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