Die Ausstellung ist eine Hommage an die ersten Antillaise, die Indigenen der Großen und Kleinen Antillen der Karibik. Columbus wird sie aus bekanntem Irrglauben Westindische Inseln taufen. Die Präsentation ist aber auch ein Tribut an jene Ausstellung vor 30 Jahren, die im Nachgang die Geburtsstunde des Museums markieren sollte.
Anhand von 70 Werken, rund 50 davon aus der hauseigenen Sammlung, will die Ausstellung auf die lange, und lang unbekannt gebliebene Geschichte der ersten Karibikbewohner zurückblicken und auch deren Erben in den heute kreolischen Gemeinden berücksichtigen. Gelingt das oder verschleiert dieser Hoffnungsschimmer eher das brutale Ende des „letzten Kapitels einer Linie, die mehr als zwei Jahrtausende“ zurückreicht?

Das letzte Kapitel vor der Kolonisation
Ayiti Quisqueva, Boriquen, Ouahomoni, Caloucaera – nur vier ursprüngliche Namen der Inseln, die nach der Ankunft der Europäer umgetauft werden: Hispaniola, Puerto Rico, Barbuda und Basse Terre (Guadeloupe). Mit einer großen Karte der Karibik beginnt die Ausstellung im Atelier Martine Aublet und zeigt uns die Dimension des Raumes, den sich die zwei heterogenen Völker geteilt haben. Die weitgehend unbekannten Namen verdeutlichen, dass von „Entdeckung“ endgültig nicht mehr gesprochen werden sollte.

Die erste Vitrine wartete mit unterschiedlichen Artefakten auf, vornehmlich zeremonielle Gegenstände der Taino: Die anthropomorphe Figur einer großen hölzerne Urne steht nicht ausgerichtet auf die Längsseite der Vitrine, sie wurde so positioniert, dass sie uns vermeintlich begrüßend anblickt. Es ist ein großer „zemi“, Objekt des Götter- und Ahnenkults. Dahinter ein Duho, ein Holzsitz speziell für den „cacique“, den Häuptling in einer Taino-Gemeinde, weiter eine große Steinaxt und kleinere „zemi“, sowie Illustrationen aus dem 19. Jahrhundert.

Es folgt ein Video, das den Ursprung der Taino und Kalinago im Orinoco-Delta an der heutigen Küste Venezuelas erläutert und die sukzessive Besiedelung der Karibik durch seine ersten Bewohner zeigt. In den folgenden Vitrinen werden die Exponate thematisch geordnet präsentiert, Texte erklären die Gegenstände, wobei die Objekttexte ausschließlich auf Französisch sind. Die Architektur der Ausstellung führt uns den einen Weg hinein bis ans Ende der Plateauebene, an dem uns Höhlenmalereien auf zwei groß aufgezogene Fotografien erwarten.

Ab hier geht es zurück in Richtung Ausgang, vorbei an einzelnen Vitrinen, die unter anderem zeitgenössischen Malerei zeigen, die sich in strahlenden Farben mit der Zeit der „Entdeckung“ durch Kolumbus auseinandersetzen, sowie weitere Gegenstände der heute kreolischen Nachkommendengemeinden und endet mit den Fotografien von heute „erfolgreichen“ Kreolen – am Ende alles gut, scheint die Erkenntnis. Wir beenden den Ausstellungsbesuch an einem irgendwie hoffnungsvollen Punkt.

Taino und Kalinago: Zwei indigene Völker der Karibik
Die Taino betrieben neben der Fischerei auch Landwirtschaft und brachten Mais, Maniok und Süßkartoffeln in die Karibik. Sie drangen zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert in die Großen Antillen vor und begründeten ihr Epizentrum auf der heute von Haiti und der Dominikanischen Republik geteilte Insel Hispaniola, die in fünf Königreiche unterteilt war. Sie lebten in Dorfgemeinschaften, die von „caciques“, Häuptlingen, geführt wurden. Aber es gab auch weibliche Oberhäupter, die „cacica“, deren bekannteste Anacoanda war. Sie wurde von den spanischen Eroberern in deren Kampf gegen die indigenen Herrschaftsstrukturen um 1503 gefangengesetzt und gehängt. Darauf wird in einem Film verwiesen, der die Bedeutung aber nicht angemessen vermittelt. Denn Anacoanda hat bis heute sowohl in Haiti, wo sie geboren wurde, als auch in der Dominikanischen Republik Kultstatus.
Anders als die Taino lebten die Kalinago auf den Inseln zwischen Trinidad und Guadeloupe nicht in von Häuptlingen geführten hierarchischen Gemeinschaften – und waren für ihre kriegerische Natur bekannt. Weil die Kalinago in ihrem Archipel nicht über Gold verfügten, waren sie für die Spanier keine attraktiven Handelspartner und wurden erst durch Franzosen, Engländer und Holländer nach 1600 kolonisiert. Lange waren die Kalinago als (Insel-)Kariben bezeichnet worden, deren Nachfahren auf der Insel Dominica leben, und in den Garifuna-Gesellschaften auch in Mittelamerika überdauert haben.
Mit Ankunft der europäischen Seefahrer im 15. und 16. Jahrhundert wurden die Taino und Kalinago zu den ersten Opfern von Eroberung, Ausbeutung, Krankheiten, Zwangsarbeit und genozidalen Kriegen in der neuen Welt.

Schwerpunkt liegt auf den Taino
Zwei Taino-Rituale sind die eigentlichen Hauptpunkte dieser Ausstellung und es steht zu vermuten, dass sie es wohl auch vor dreißig Jahren waren. Zum einen das Ballspiel, „batey“, das jedoch weiterhin mehr Fragen aufgibt, als Antworten bietet. Die Präsentation in der Vitrine kann denn auch nur mit rätselhaften steinernen Ringen (sog. Halsketten) und Kugeln nebst einer Zeichnung des 19. Jahrhunderts aufwarten, aber bringt auch im Text keinerlei weitere Information über die Art des Spiels. Zum Beispiel fehlt die Information, dass es ohne Verwendung von Händen und Füßen gespielt wurde und damit so gar nicht den westlichen Ballspielen ähnelte.

Das Zeremoniell der „cohoba“, das Inhalieren von psychohalluzinogenen Wirkstoffen, ist Höhepunkt der Ausstellung. Die Vitrine zeigt eine große Plastik mit dem „Idol der cohoba“ sowie u.a. fünf Brechspateln, die mit dem Idol am Ende des 19. Jahrhunderts in einer Höhle im Norden der Dominikanischen Republik zusammen von einem Bauern entdeckt wurden. Die Objekttexte nennen Fundort und -zeitraum, grob auch die Funktion, aber das Zeremoniell bleibt rätselhaft. Hier zeigt sich, was unwiederbringlich verloren ist. Für die Kalinago-Kultur gibt es nicht einmal diese Einblicke, und sie kommen überhaupt zu kurz in dieser Schau. Die ehemals als Kannibalen Verschrienen, sie werden nicht greifbar.

»Art Premier« im Musée du quai Branly – Jacques Chirac
Das Museum an der Pont d’Alma, unweit von Eiffelturm und Seine, geht auf den Kunsthändler Jacques Kerchache zurück, der in den frühen 1990er Jahren den damaligen Bürgermeister von Paris, Jacques Chirac, für seine Idee gewinnen konnte. Zuerst als neue Unterabteilung für den Louvre angedacht, entschied Chirac, ein ganz neues Museum müsse her.
Das 2006 eröffnete Museum nach Plänen von Jean Nouvel, sollte einen „lang gehegten Traum zahlreicher Autoren, Kritiker und Anthropologen“ (Broschüre des Museums, Übersetzung N.G.) erfüllen: Um nicht-westlichen Zivilisationen und deren Künste einen eigenen Platz im Orchester der Museen zu verschaffen. Ein Jahrzehnt nach der Eröffnung scheint es sich angesichts von Restitutionsdebatten und postkolonialen Diskursen (New Museology, etc.) bereits selbst überlebt zu haben. Das Musée du quai Branly hatte 2018 sechsundzwanzig Plastiken an die Republik Benin restituiert.
Zwar grenzt sich das Quai Branly mit dem Begriff „art premier“ (dt. Erste Kunst) für alle nicht-westliche Kunst von der negativ konnotierten Bezeichnung „primitive Kunst“ ab, die sowohl Erhöhung wie Herabsetzung zugleich ist. Wesentliche Legitimation des Quai Branly bestand denn auch darin eine Zäsur darstellen zu wollen zwischen einer »Zeit der Verachtung« (Kolonialzeit) und einer gegenwärtigen »Zeit der Anerkennung« (Vgl. Nora Sternfeld). Dennoch bleibe es ein Museum „der Anderen“ mit Trophäen des Kolonialismus, der nunmehr jedoch nicht weiter thematisiert werden müsse, wenn die Objekte als Kunst verhandelt werden. Schon seit den 1980er Jahren wurde gegen ähnliche Vorhaben der Vorwurf der „Entkontextualisierung durch Ästhetisierung“ erhoben.
Ethnologische Museum in Europa überhaupt zukunftsfähig?
Heute verfügt das Museum über eine Sammlung von rund 300,000 Werken aus Afrika, dem Mittleren Osten, Asien (von Zentral bis Ost nach Südwest), Ozeaniens und den Americanas, selbst der Arktis, und beinhaltet Skulpturen, Bildwerke, Fotografien, musikalische Instrumente, Kleidung und Stoffe, Kunsthandwerk, Silber- und Goldschmiedearbeiten und mehr. Damit zeigt es den unglaublichen Reichtum und kulturelle Vielfalt außereuropäischer Kulturen vom Neolithikum (ca. 10,000 Jahre v.u.Z.) bis in unsere Gegenwart.
Rund 70,000 Werke allein aus Subsahara-Afrika sollen sich im Besitz des Quai Branly befinden. In ganz Europa, so besagen Schätzungen, sollen 85 bis 90 Prozent des afrikanischen Kulturerbes lagern.
Aber ist in Zeiten heutiger Museumskritik, die sich nicht nur an der Frage der Art und Weise des Objekterwerbs im Kolonialismus entzündet, sondern auch gegen die musealen Ordnungskriterien – Kunst/ Artefakt sowie Natur/ Kultur – generell richtet, solch ein Museum überhaupt noch zukunftsfähig?
Fazit
In Anlehnung an die Ausstellung von 1994, die allein der Skulptur der Taino galt, wollte man dreißig Jahre später diese nicht bloß wiederholen, sondern auch um die in den zurück gelegten Jahrzehnten neu erworbenen Erkenntnisse erweitern. Dennoch verbleibt der Schwerpunkt leider weiterhin bei der Taino-Kultur und von den Kalinago kann nur wenig präsentiert werden. Hier zeigt sich: So recht weiß man nicht, wie man Geschichte erzählt, wenn Bilder und Objekte fehlen. Diese Leerstellen mit zeitgenössischen Produktionen zu füllen, wäre daher auch im Sinne des neuen ethnologischen Ausstellungsansatzes sinnvoll gewesen.
Stattdessen kommen diese, wie überhaupt der Blick auf die Gegenwart, die das Überleben veranschaulichen möchte, erst am Ende und wenig überzeugend. Da die Ausstellung stringent keiner Chronologie folgt, wäre dieses Vorgehen nicht nötig.
Die Eingangssituation gibt uns bereits eine „Perspektive der Exotik, der Differenz“ (Sternfeld: 65) vor und verbleibt somit bei der Idee der „Entdeckung der Welt in Miniatur (die) zur Rhetorik der kolonialen und postkolonialen Ausstellungstradition (gehört)“ (Vgl. Benoît de l’Estoile, Le Goût des autres). Hierunter fällt auch, dass zwar mit dem Klischee der kannibalistischen Kalinago aufgeräumt werden soll, aber dennoch die europäischen Bilder dazu hinterlegt werden, die dann als „karikaturhaft“ kritisiert werden.
Eine ethnologische Ausstellung, die es leider versäumt die Exponate lebendig zu vermitteln. Einfach die Objekte nach thematischen Zusammenhängen clean in Vitrinen zu präsentieren, geht nicht auf. Zudem nimmt die Vertikalität der Vitrinen sowie die gedrungene Raumgestaltung die an den Anfang gestellte Vorstellung der Weite der Karibik. Doch gerade das Meer erhält zu keiner Zeit Bedeutung.
Es bleibt der Eindruck einer überschaubaren Präsentation, die vor allem über die Filme Informationen über das letzte Kapitel der prä-Kolumbischen Karibik bietet. Ein innovativerer Umgang mit den Exponaten und der erzählerischen Raumgestaltung wäre jedoch wünschenswert gewesen.
Musée du quai Branly – Jacques Chirac mit Unterstützung durch die Fondation Martine Aublet, „Tainos et Kalinagos des Antilles“, 4.6. bis 13.10.2024
Kurator: André Delpuech



















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