In Loriots Film „Papa ante Portas“ taucht als running gag immer wieder die „Birne Helene“ auf. Unter diesem Namen servieren die Restaurants alles Mögliche, nur nicht Birne mit Vanilleeis, Sahne und heißer Schokoladensauce. Heinrich Lohse, die männliche Hauptfigur, regt sich jedes Mal neu über diesen Etikettenschwindel auf. Daran muss ich jedes Mal denken, wenn ich von einer neuen „virtuellen Ausstellung“ höre – und das ist oft in der letzten Zeit.
Die Vorteile virtueller Ausstellungen liegen auf der Hand. Wenn die Museen wegen der Covid-19-Pandemie geschlossen sind, können sie damit trotzdem Präsenz zeigen. Außerdem treten sie mit ihren Objekten und Themen dort auf, wo sich ein wachsender Teil der Information und Kommunikation abspielt: Im Internet. Das galt schon „vor Corona“, wie das Lebendige Museum Online (LeMO) seit über 20 Jahren beweist, und wird auch künftig gelten, wenn die Ausstellungen wieder öffnen können. Diese Sichtbarkeit sorgt in jedem Fall für mehr Aufmerksamkeit (ob das den Aufwand lohnt oder auch nur neue Publikumsschichten erschließt, kann ruhig dahingestellt bleiben).
Wo also liegt das Problem? Verhindern solche digitalen Angebote vielleicht, dass die Nutzerinnen und Nutzer später mal tatsächlich die Ausstellungen aufsuchen, weil sie ja schon alles gesehen haben? Olia Lialina ist zu Recht genervt von dieser Sorge, die immer wieder zur selben Beschwörung führt: „Der virtuelle Museumsbesuch kann niemals den realen Museumsbesuch ersetzen, sprich: die Erfahrung vor dem Original“. Und sie fragt irritiert: „Ja, nein, warum sollte denn das auch so sein?“ – und betont zu Recht die Eigenständigkeit der Präsentation von (Kunst-)Objekten im Netz, die nicht einfach als Fortsetzung der Ausstellung mit digitalen Mitteln gedacht und betrieben werden darf. Das heißt aber auch, dass Museen hier massiven Aufwand betreiben müssen, schon um die nötigen Kompetenzen zu erwerben. Zu allen anderen Aufgaben kommt der virtuelle Auftritt hinzu. Das wäre der Punkt um nach dem Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu fragen und pragmatisch zu entscheiden und nicht einfach irgendwelchen Trends nachzulaufen. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass genau das letztere geschieht: Museen werden mit zusätzlichen Erwartungen konfrontiert, ohne zusätzliche Mittel zu bekommen. Das wäre sicher ein Problem.
Ein zweites liegt in der Vorstellung von dem Wesen einer Ausstellung, die sich in dem Begriff der „virtuellen Ausstellung“ manifestiert. Im Kern ist die Ausstellungssituation danach beschrieben durch eine simple Handlung: Mensch sieht Objekt (und liest Texte dazu …). Stefan Trinks hat demgegenüber schon auf die physische Dimension einer Ausstellung verwiesen. Er beschreibt die körperliche Konfrontation mit dem originalen Kunstwerk als das, was die Ausstellung im Museum von der virtuellen unterscheidet und was auch im Netz nicht zu reproduzieren ist. Im Kern sprechen die virtuellen Ausstellungen (leider noch) ganz überwiegend nur den Sehsinn an, schon das Hören bleibt auf der Strecke, von Riechen und Tasten ganz zu schweigen. Genau diese Defizite des Virtuellen dienen auch dazu, die fortbestehende Bedeutung eines physischen Ausstellungsbesuchs zu begründen. Hier wäre also mit Blick auf die Ausstellung zu formulieren: Mensch begegnet Objekt. Wenn man nicht nur vom auratischen Kunstwerk her denkt, lässt sich dieser Gedanke auch auf die physische, leibhaftige Präsenz im (Ausstellungs-) Raum ausdehnen.
Dabei fehlt aber noch ein weiterer Aspekt, der für Ausstellungen konstitutiv ist und beim Reden von „virtuellen Ausstellungen“ noch weiter in den Hintergrund tritt, als das bedauerlicherweise ohnehin oft der Fall: Ein Mensch besucht nur ausnahmsweise allein eine Ausstellung. Der Ausstellungsbesuch ist ein sozialer Akt. In Kunstmuseen gilt ja ein strikter Verhaltenskodex, der zum Beispiel Gespräche nur kurz und in gedämpften Ton erlaubt. Deshalb wird das Soziale und Kommunikative dort nicht so gut sichtbar. Das Publikum begreift sich aber ziemlich sicher als Gruppe, die zumindest die Wertschätzung für Kunst teilt. Und über die Ausstellung wird auch in Kunstmuseen gesprochen, mindestens vor und nach dem Besuch – etwa im Bekanntenkreis. In historischen Museen, mehr noch in Technik- und ganz deutlich etwa in Freilichtmuseen ist die soziale Dimension aber mehr als sichtbar. Und gerade diese ist „online“ bislang noch sehr wenig berücksichtigt und sähe dann auch definitiv anders aus als bei einem Ausstellungsbesuch mit Familienmitgliedern oder im Freundeskreis. Insofern gilt: In Ausstellungen begegnen Menschen leibhaftig Objekten und anderen Menschen.
Was soll man also zu virtuellen „Ausstellungen“ sagen? Als ihm wieder einmal eine eigenwillige „Birne Helene“ vorgesetzt wird, sagt Heinrich Lohse den schönen Satz: „Ich esse es ja, aber nicht unter falschem Namen.“ Das Happy End des Films kann allerdingser erst kommen, als Herr Lohse dem nachdrücklichen Hinweis seiner Frau folgt und einfach still sein Dessert isst. Denn eines hat der Film zu dem Zeitpunkt erreicht: Das Publikum weiß, was eine „Birne Helene“ eigentlich ist. Wenn die virtuellen „Ausstellungen“ dafür sorgen, dass das Physische und das Soziale als konstitutiv für eine Ausstellung begriffen wird, könnte man den Etikettenschwindel gelassen ertragen. Das spricht alles nicht dagegen, dass Museen ihr Online-Angebot mutig und innovativ erweitern. In dem Fall sollten sie sich aber wirklich auf das Medium einlassen und nicht einfach einen schwachen Abklatsch des bewährten „Analogen“ liefern. Vor allem aber sollten Museen nicht ihre Kernkompetenz beschädigen (auch nicht durch eine leichtfertige Verschiebung von Ressourcen). Die Ausstellung ist nicht einfach ins Internet zu verlagern, die sinnliche und soziale Dimension ist virtuell nicht zu haben.


















