NUR GUCKEN
Klein, fein und ein überaus aktueller Augenschmaus: die Ausstellung „Rühr mich nicht an. Zur Kulturgeschichte des Social Distancing“ ist eine absolute Bereicherung in diesen Wochen und Monaten, die um jeden Zentimeter an persönlicher Nähe und Kontaktreichweiten feilschen.
Bliebe es bei einer quellenreichen Schau rund um die neue Qualität von Distanz, die historische Gemälde und Schriftstücke in Reih und Glied verortet, mit Farben spielt und Wandtexte akkurat auf Augenhöhe hängt, würde man gedanklich gut genährt den Ausstellungsraum verlassen und mit dem kleinen Wissen um die Historie der Fernbeziehungen nach Hause gehen.
Doch das Besondere an „Rühr mich nicht an“ ist, dass sie aus der derzeitigen Not eine überaus gelungene Tugend macht. Es ist eine hübsche Online-Ausstellung des Deutschen Buch- und Schriftmuseums der deutschen Nationalbibliothek. Sie bietet eine höchst unterhaltsame Darstellung im nunmehr weltweit überstrapazierten weltweiten Netz an.
SCROLLEN STATT SCHLENDERN
„Scrollytelling“ lautet das Zauberwort, das auch diese Ausstellung, wollen wir so weiter so bezeichnen, zum lehrreichen Genuss werden lässt. Man fährt via Maus oder Touchpad durch die Geschichte, um dann und wann ein Hintertürchen, sprich eine Bilderläuterung zu öffnen.
Nach einer Einleitung folgen 11 „Kapitel“ und ein Schluss. Ganz linear führt der rote Faden von oben nach unten. Pro Kapitel stehen Vertiefungsmöglichkeiten durch Klicken auf die Bilder aus dem Bestand des Hauses zur Verfügung. Jedes Bild hat eine Vergrößerungsfunktion, die Hexen und Heilige, Könige und Kardinäle gestochen scharf auf dem Monitor erscheinen lässt. Eine Textebene unterfüttert das Ganze: großzügig und in angenehmer Farbigkeit (ab-)gesetzt, so dass die von der Bildschirmarbeit müden Augen wohlfeile Erholung finden.

Und wir lernen einiges: Die Sache mit dem Berührungsverbot ist keine Erfindung des „Corona-Jahrs“, so viel wird so schnell klar. Abstand halten kann ein Geobt der feinen Sitte ebenso sein wie eine Distanzierung vor gefährlichen Frauen, Hexen benannt. Jesus wies Maria Magdalena mit dem berühmten „Noli me tangere“ ab und wir erfahren, dass die Mimose ein Feingeist der Pflanzenwelt ist, die sich sehr ungern anfassen lässt. Selbstverständlich plagten Seuchen die Menschheit ebenfalls zu allen Zeiten, so dass Kontaktverbote mit Pestkranken schon im 14. Jahrhundert zur Eindämmung beitragen sollten.

DIGITALE ZUSAMMENSCHAU
Bei mancher Abbildung hätte man sich noch etwas mehr Infos gewünscht, die etwa über den Eintrag auf der Inventarkarte hinausgehen. Andersrum lässt sich leicht noch ein Textchen oder ein weiteres Gemäde, eine weitere Verordnung aus der Sammlung hinzufügen. Lohnen würde das. Denn insgesamt ist das Projekt ein gelungenes buntes Fundstück im überquellenden Digital-Konzert der Kultureinrichtungen.
Die Ausstellung liegt auf dem Server der Deutschen Digitalen Bibliothek (DBB) und ist seit dem 16. September 2020 online.

UND NOCH EIN TOOL TIPP
Nach gleichem Vorbild kann man übrigens auch in fast 70 (!) weiteren virtuellen Ausstellungen aus Nachlässen verschiedener Sammlungen stöbern.
Das Füllhorn ist üppig bestückt. Vom Reiz selbstgebauter Radios über das hinreißende Tun evangelischer Laienspieler*innen der 1920er Jahren bis hin zur Trinkkultur bietet der Service der Deutschen Digitalen Bibliothek für Liebhaber*innen von Alltagskulturellem ebensolche Seh-Genüsse wie Rechercheure aus der Journaille oder des Ausstellungswesens.
Der Clou ist: Solche virtuellen Ausstellungen können auch andere mit der Deutschen Digitalen Bibliothek assoziierten Einrichtung kuratieren. Die DBB stellt ein Ausstellungstool („DDBstudio“) kostenfrei zur Verfügung, mit dem Kultur- und Wissenseinrichtungen ihre Sammlungen und Objekte in virtuellen Geschichten neu präsentieren können. Ein bißchen wie Google Arts and Culture. Zur Nachahmung also wärmstens empfohlen, denn manches Dokument gehört einfach gezeigt.
https://pro.deutsche-digitale-bibliothek.de/ddbstudio
Noli me tangere ist kuratiert von
Deutsches Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig
Team
Dr. Stephanie Jacobs (Leiterin)
Stefan Paul-Jacobs
Dr. Ramon Voges (Leiterin Papierhistorische Sammlung)
Dr. André Wendler (Forschungsreferent)
Die Ausstellung ist zu finden unter https://ausstellungen.deutsche-digitale-bibliothek.de/distanz/#s0


















