Pandemie. Seit gut acht Monaten steht die Kultur still. Museen, Galerien, Theater und Konzertsäle müssen schließen. Konzerte, Ausstellungen und Vorstellungen werden verschoben oder müssen komplett ausfallen. 2020. Ein trauriges Jahr. Für uns alle.
2020 ist auch das Jahr 82 nach den kulturbarbarischen und mörderischen Novemberpogromen von 1938. Von den Nazis euphemistisch „Reichskristallnacht“ genannt. Als wäre nur Kristall zerscheppert.
In diesem Jahr also, in dem die Menschen mehr denn je in die Digitalität entweichen, sich zu Zoom-Treffen zusammenfinden, wandert auch das kulturelle Angebot verstärkt dahin ab. In der Pandemie wird die virtuelle Welt zum Ersatzort für Begegnungen und gesellschaftliche Ereignisse.
Die Onlineausstellung „7Places.org“
„Als Besucher:innen können Sie in die Vergangenheit scrollen und die namensgebenden 7Places, 7 Orte in Deutschland, und viele weitere Orte der Erinnerung kennen lernen, anschaulich nachvollziehen wie sie entstanden sind, wie sie sich verändert haben, wie sie zum Teil zerstört und wie sie wieder zum Leben erweckt wurden.“ Wie ein Mantra fungiert hierbei „Rememberance is vivid through communication“ so viel wie: Erinnerung im Dialog weitertragen. Die Ausstellung soll durch live-Veranstaltungen ergänzt werden, womit Austausch, Lernen und Vernetzung bedient werden soll. In Zeiten einer Pandemie bleibt das abzusehen.
Dabei geht es den Organisatoren der Ausstellung ausdrücklich nicht allein um die Shoah, sondern um jüdisches Leben in den sieben Orten Berlin, Köln, Solingen, Norderney, Essen, der Gedenkstätte für die „Landjuden an der Sieg“ in Windeck/Rosbach, Halle sowie bruchhaft weiterer Orte außerhalb des deutschen Raumes, in allen seinen Facetten und historischen Brüchen. Doch wie lässt sich rekonstruieren, was so ephemer ist, über Jahrhunderte hinweg verfolgt und schließlich im größten Menschheitsverbrechen beinahe vollkommen zerstört wurde?
In der Tat werden wir eng bei den Orten der Geschehnisse und Erinnerung verbleiben. Wir begleiten vielmehr die Geschichte der Orte an denen einst Jüdinnen und Juden lebten, und die in manchen Fällen nach der Shoah nur mehr Erinnerungsorte sind. Erinnerungskultur ist daher ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Ausstellung und so können wir verschiedenen Projekten des Erinnerns weltweit folgen.
Pandemie befördert die Digitalisierung von Ausstellungskonzepten
Ursprünglich war angedacht zum weltweiten Gedenken an die Novemberpogrome von 1938 eine große Ausstellung im Gebäude der Vereinten Nationen in New York auszurichten. Aber, genau, die Pandemie. Doch online ist ja auch viel weitreichender, so Kurator Jürgen Kaumkötter vom Museum für verfolgte Künste Solingen, neben den Vereinten Nationen organisierendes Organ der Gedenkausstellung. Also wurde anstatt für den realen eben für den virtuellen Raum gestaltet. Eröffnet wurde die Ausstellung am 9. November durch Bundesaußenminister Heiko Maas und Melissa Fleming, Under-Secretary-General for Global Communications der Vereinten Nationen. Online versteht sich. Um 17 MEZ ging die Webseite dann live. Ausstellungseröffnung im Pandemiejahr 2020.
Öffentlicher Raum Internet
Das Internet als grenzüberwindender, öffentlicher Raum ist ja nicht neu. Seine Dringlichkeit hingegen schon. Dass die Macher sich daher zu einer Online-Ausstellung, auf Deutsch und Englisch, entschlossen haben, ist angesichts der weltweit ansteigenden Leugnung der Shoah und des Holocaust allzu erforderlich. Umso unverständlicher und gar enttäuschend ist daher, dass auf der Webseite der Vereinten Nationen diese Ausstellung nicht augenscheinlich beworben wird.
Aufbau
Den Anfang der Ausstellung markiert ein ganz bestimmtes Datum: der 1. Januar 321. Per Dekret gestattete Kaiser Konstantin, jener Kaiser, der den Aufstieg des Christentums im Imperium Romanum einläutete, den Provinzstädten die Berufung von Jüdinnen und Juden in den Stadtrat. Der Erlass mit Gesetzescharakter ist frühester erhaltener Beleg für die Existenz von Jüdinnen und Juden nördlich der Alpen. Beginn jüdischen Lebens in Deutschland und Ausgangspunkt für das kommende Festjahr 2021.

Die Hauptausstellung erfolgt in Form eines Zeitstrahls, beginnend in der Gegenwart. Das Scrollen ersetzt das Laufen im reellen Raum. Jedes Ansichtsfenster mit je einem Bild und Text, manchmal mit der Option des mehr Info-Buttons versehen. Von dort aus gelangen wir in die zweite Ebene der Ausstellung, die einem der sieben Orte vorbehalten ist. Scrollen wir also von hier herauf, verbleiben wir am selben Ort und seiner jüdischen Geschichte, bewegen uns in der Zeit voran, während wir beim hinunterscrollen in der Zeit zurückgehen.

Für die wichtigen Daten, die gemeinsamen Nenner wie „Judenboykott“ und „Pogromnacht“ gibt es über ein Randregister die Möglichkeit direkt zu einem der anderen Orte zu gelangen. Die anwählbaren Registerkarten bringen uns dann in den Zeitstrahl des jeweiligen Ortes. Daher ist es möglich nicht streng der Geschichte eines Ortes zu folgen, sondern zwischen diesen hin und her zu wechseln. Die Anordnung könnte klarer gestaltet sein, insbesondere wenn es eine Verlinkung für alle sieben Orte gibt. Grafisch würde man sich manches mal mehr wünschen.

Gestaltung
Das Display der Webseite, umgesetzt von dem Wuppertaler Kreativkontor Jansen & Jansen, ist etwas altbacken und am Anfang zumindest irreführend mit seiner wellenartigen Linie, der man zu folgen glaubt, sich aber irgendwie hoch und runter bewegt und zunächst nichts sieht. Auch gibt es noch technische Fehler hier und da, nicht immer gelangt man mit dem mehr-Button zum angezielten Content, Bilder werden nicht angezeigt. Und auch inhaltlich ist nachzubessern, denn vom 9.11.1938 für den Ort Berlin gelangen wir beim Hochscrollen plötzlich ins Jahr 1988 – 50 Jahre ohne Ereignisse für Berlin? Diese Zeitsprünge innerhalb eines Ortes um teilweise mehrere Jahrzehnte sind unerfreulich, da den „Lauf“- und Lesefluss störend, aber auch als erhebliche „Wissenslücke“.
Für 1943 haben wir überraschender Weise lediglich zwei Register zur Auswahl, und beide bringen uns an keinen der sieben Ort. Dafür jedoch stehen uns u.a. Informationen zum ersten Transport Thessalonikischer Juden nach Auschwitz zur Verfügung. Denn wir haben zugleich den Haupt-Zeitstrahl verlassen, der uns ja zu einem der sieben Orte bringt und sortieren uns nun neuerlich unter der Rubrik „Partner“ ein – also internationale Kooperationen, die uns über den deutschen Raum hinausführen. D.h. beim Hoch- oder Runterscrollen finden wir uns nicht wieder in der Hauptausstellung ein, sondern hangeln uns entlang Informationen zu Projekten im Zusammenhang mit jüdischem Leben und Erinnerungskultur. Das ist verwirrend, wirkt teilweise wahllos. Ein klassischer Fehler den virtuellen Raum als multidimensional zu begreifen, gleichzeitig jedoch als klassischen White Cube zu nutzen. Farbskalen würden hier schon helfen zu veranschaulichen, dass wir uns in einer neuen Rubrik befinden. Diese hätte ich im Übrigen auch für jeden der sieben Ort angewendet. Aus Pietät wurde wohl von einer reichen Farbwahl abgesehen und kontinuierlich auf gedecktes Schwarz und Blau gesetzt.
Lückenhaftigkeit
Manche Daten sind unverständlich spärlich. Das sich im Jahr 1941 nichts in Berlin abgespielt haben soll, ist ausgeschlossen. Leuchten zumindest bis zur Zeit des Nazismus* die genannten Daten ein, so ist ab 1933 die rudimentäre Chronik wenig nachvollziehbar. Für das Jahr 1945 gerade einmal ein Register für Solingen anzubieten, halte ich für unangemessen. Sicher, die Ausstellung ist auf ein unabsehbares Ende hin konzipiert und auf ihre Erweiterbarkeit. Dennoch ist das Datum zu wichtig als das diese Leerstelle gerechtfertigt sei. Hoffentlich wird hier schnell nachgeliefert.
Oral History kommt zu kurz
An manchen Stellen gibt es kurze Zeitzeugenaussagen als Zitat eingefügt in den Text – sie hätten länger ausfällen können und, wenn möglich, im Medium Ton. Zumal angesichts der enormen Bedeutung der Oral History für die Erinnerungskultur. Diese wird so fast komplett ausgespart. Aber das würde wahrscheinlich die angestrebte Mehrsprachigkeit, wobei bislang auch nur die Bilingualität bedient wird, erschweren. Oder sind Kosten für Übersetzungen, Copyright und zeitlicher Aufwand Grund für dieses Versäumnis? Eine Organisation wie die Shoah Foundation, an der Southern University of California beheimatet und mit tausenden Audio- und Videoaufnahmen aufwartend, ins Boot zu holen, wäre sicherlich von Vorteil gewesen.
Mit dem Fehlen von Zeitzeugnissen einher geht zugleich, dass ebenfalls ein wesentlicher Aspekt der Neuen Medien, die Multimedialität, ignoriert wird.
Verweigerte Medien Ton, Video und Sprache
Die Macher der Ausstellung haben überhaupt wenig Sinn für Mediengebrauch. So wird zum Beispiel leider auch keine Vertonung des Gebets, das Jüdinnen und Juden beim Betreten einer Synagoge sprechen, und das von Louis Lewandowski, einem von Polen nach Berlin emigrierten Juden, im 19. Jahrhundert erstmals vertont wurde, angeboten. Das wäre sinnlich wahrnehmbares jüdisches Leben. Aber Ton wird überhaupt nicht bedient. Dabei hat Virtualität doch mehr zu bieten als das Medium Text. Von dem es reichlich gibt, was gut, weil notwendig ist.
Auch Exponate kommen zu kurz
Völlig verkannt wurde die Bedeutung von Exponaten, die auch für Onlinepräsentationen gelten sollte. Das ist besonders bedauerlich, zumal in dem knapp 30-minütigen Einführungsvideo auf die Vermittlung durch historische Dokumente, Kunstwerke, Fotografien und Zeitzeugnisse markant verwiesen wird. Doch wo bleiben diese? Abgesehen von kleinen Abbildungen – noch nicht einmal extra anwählbar für eine nähere Betrachtung – im Bildfeld neben den erklärenden Texten, lässt sich von ihnen nichts finden und sehen.
Dabei sind doch sie Überreste des im Rassenwahn der Nazis beinahe vollständig zerstörten jüdischen Lebens in Deutschland. Zum Teil nur wie durch ein Wunder erhalten geblieben, erzählen und veranschaulichen gerade sie die Jahrhunderte alte Tradition; stehen sie auch symbolisch für die Millionen Menschenleben.
Verlinkung, immerhin
Die Ausstellung nutzt selbstverständlich die Möglichkeit der Verlinkung zu anderen Webseiten wie der zur Amsterdamer Machsor, eine Handschrift aus dem 13. Jahrhundert, die zudem eine der ältesten hebräischen Manuskripte im deutschsprachigen Raum ist. Die Vertiefung in die Thematik jüdisches Leben und Tradition wird so zumindest stellenweise gewährleistet. Aber auch vermieden näher auf sie eingehen zu müssen.
Eine Ausstellung für die Zukunft
Das Internet als neuer Erinnerungsort, der viele, auf der ganzen Welt verstreut, zusammenbringt an einem gemeinsamen. Die Welt ist klein und im eigenen Wohnzimmer zu haben. Im Jahr der Pandemie, wo reisen unmöglich ist, auch mit Zwischentönen zu lesen.
Bei der Einweihung der Gedenkstätte „Landjuden an der Sieg“ 1994 sprach der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, zum Gedenkwort: „Landjudentum gibt es nicht mehr in Deutschland und wird es auch nicht mehr geben. Deshalb ist diese Stätte so wichtig, um die Geschichte zu dokumentieren und besonders für junge Menschen nachvollziehbar zu machen.“
Das lässt sich für diesen virtuellen Raum des Gedenkens nur allzu deutlich wiederholen. Die Überlebenden und Zeugen der damaligen Ereignisse vom 9. zum 10. November 1938 und des Nazismus gelangen an ihr natürliches Ende. Was sie uns zusagen haben, wird auf alle Zeit zu hören sein müssen. Deshalb ist diese Stätte so wichtig, um Geschichte über Ländergrenzen und Generationen hinweg zu dokumentieren und für junge Menschen nachvollziehbar zu machen. Die Weiterführung und der Ausbau des Projekts ist daher nur allzu wünschenswert.
*Die Autorin, die an der Universität Heidelberg Geschichte studiert hat, möchte eindringlich darauf verweisen, dass Sprache lebendig wie subjektiv ist. Am Nazismus war niemals etwas sozialistisch. Der Gebrauch war propagandistische Eigenbezeichnung der rassistischen, antisemitischen und menschenverachtenden Partei NSDAP. Die Autorin lehnt daher die Übernahme der euphemistischen Begriffe Nationalsozialismus sowie Nationalsozialisten für die Geschichtsschreibung wie für den alltäglichen Sprachgebrauch ab und verwendet anstatt die Begriffe Nazismus und Nazis.



















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